Die Zahl von verbalen oder physischen Angriffen auf Jüdinnen und Juden ist seit dem Beginn des Gazakriegs zweifellos stark gestiegen. Wenn aber US-Präsident Joe Biden, österreichische Politiker oder Kommentatoren in aller Welt von einem dramatischen Anstieg des Antisemitismus sprechen, dann meinen sie auch etwas anderes: die propalästinensischen Proteste auf Universitäten und Straßen – nun auch beim Song Contest im schwedischen Malmö – mit ihren radikalen Slogans, die sich gegen Israel, aber nicht per se gegen Juden richten.

Ist ein Slogan wie auf diesem Plakat in New York, Palästina zu befreien
Ist ein Slogan wie auf diesem Plakat in New York, Palästina zu befreien, eine legitime politische Forderung oder ein Aufruf zur Zerstörung eines Landes?
GETTY IMAGES NORTH AMERICA/MICHA

Ist diese Verbindung berechtigt? Steckt bei den lautstarken Protesten gegen den Gazakrieg und Israel ein altes Vorurteil in neuem Gewand? Oder wird hier ein Ausdruck der Meinungsfreiheit durch einen Vorwurf, der seit dem Holocaust als besonders schlimm gilt, delegitimiert?

Diese Debatte tobt seit Monaten und beeinflusst die Haltung vieler Regierungen zum Konflikt an sich. Zuletzt waren sogar die Wiener Festwochen dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt, weil sie mit Yanis Varoufakis und Annie Ernaux zwei extreme Israel-Kritiker in ihr Programm aufnahmen und mit dem israelischen Philosophen Omri Boehm einem Mann eine prominente Stimme gaben, der den heutigen Zionismus infrage stellt. Das Spektrum der Ansichten in dieser Frage ist weit.

Für Israels Premier Benjamin Netanjahu und andere Vertreter der israelischen Rechten ist praktisch jede Kritik an Israel antisemitisch. Israel werde nicht wegen seiner Handlungen kritisiert, sondern "weil wir existieren, (...) weil wir Juden sind", sagte er diese Woche am Holocaust-Gedenktag. Selbst der Ruf nach einem Ende des Gazakriegs, dem sich nun auch das Weiße Haus anschließt, ist demnach antisemitisch, weil es das Recht auf Selbstverteidigung des jüdischen Staates infrage stellt. Wer einen Waffenstillstand fordert, bevor die Hamas endgültig vernichtet ist, bereitet den Boden für den nächsten Angriff auf jüdisches Leben.

"Grenze klar überschritten"

So weit würde der österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici, der sich seit Jahrzehnten mit linkem Antisemitismus beschäftigt, nicht gehen. Aber auch er sieht etwa beim Protestcamp auf dem Wiener Uni-Campus, das am Donnerstag aufgelöst wurde, klare Zeichen des Judenhasses: "Wenn das Existenzrecht jüdischer Souveränität und jüdischer Städte negiert wird, wenn die Berechtigung zur Gründung des Staates Israel drei Jahre nach Auschwitz negiert wird, wenn Juden aufgefordert werden, dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen sind, wenn es keine klare Distanzierung vom genozidalen Terror der Hamas gibt, sondern der 7. Oktober als Meilenstein des palästinensischen Widerstandes gefeiert wird, dann haben wir die Grenze zum Antisemitismus klar überschritten."

Hingegen schreibt der prominente New York Times-Kolumnist Thomas Friedman, selbst jüdisch und ein Freund Israels, in einem Kommentar, in dem er die Uni-Proteste massiv kritisiert: "Mein Problem ist nicht, dass diese Proteste im Allgemeinen 'antisemitisch' sind – ich würde dieses Wort nicht verwenden, um sie zu beschreiben, und fühle mich sehr unwohl damit, wie mit dem Vorwurf des Antisemitismus beim Thema Israel/Palästina herumgeworfen wird."

Einfluss auf Haltung der USA

Die Frage, wo Antisemitismus beginnt, entscheidet in den Augen vieler über die Zulässigkeit von antiisraelischen Protesten. Und sie hat Einfluss auf die Haltung westlicher Regierungen zum Gazakonflikt, vor allem in den USA, wo der wachsende Widerstand vieler jüngerer Wähler gegen die Unterstützung für Israel zum Problem für Biden wird. Werden die Protestierer als Antisemiten abgestempelt, verlieren ihre Stimmen an Gewicht.

Das Narrativ, das von der Regierung Netanjahu und zahlreichen jüdischen Organisationen verwendet wird, geht folgendermaßen: Seit vielen Jahrhunderten sind Juden Zielscheibe von Hass und Verfolgung, was im Holocaust einen tragischen Höhepunkt fand. Das gleiche Schicksal erleidet der Staat Israel, der seit seiner Gründung 1948 von Nachbarstaaten attackiert, international isoliert und von Terrorismus gepeinigt wird. Und wenn nach dem schlimmsten Terrorangriff in der Geschichte des jüdischen Staates unzählige Menschen die Täter verteidigen oder zumindest ignorieren und Israel zum Verbrecherstaat abstempeln, wie kann man das nicht als Antisemitismus bezeichnen?

Die drei Ds

Diese Position wird gerne mit den "drei Ds" untermauert: Beleg für Antisemitismus in Bezug auf Israel sind die Dämonisierung, Delegitimierung und die Anwendung von Doppelstandards. Wenn Israel auf internationalen Konferenzen ständig verurteilt wird und tagtäglich Bilder aus Gaza über die Bildschirme flimmern, obwohl anderswo in der Welt noch viel Schlimmeres geschieht, dann sei das nicht sachliche Kritik, sondern Hetze.

Das andere Narrativ lautet so: Israel mag in der Zeit seiner Gründung um sein Überleben gekämpft haben, aber das Bild hat sich gewendet. Heute sind die Palästinenser die Opfer, leben als Flüchtlinge in anderen Staaten, als Menschen zweiter Klasse unter einem harschen und völkerrechtswidrigen Besatzungsregime im Westjordanland oder abgeschnitten vom Rest der Welt im Gazastreifen. Wenn Israel nun auf den unverzeihlichen Hamas-Angriff mit einem Krieg reagiert, der zu tausenden zivilen Todesopfern und einer Hungersnot führt, dann ist das unverhältnismäßig. Dann sind Proteste legitim und haben nichts mit Judenhass zu tun. Und wenn man bedenkt, dass die Palästinenser bereits durch die Staatsgründung 1948 den Großteil ihres Landes verloren und in die Flucht getrieben wurden, dann darf man auch den Staat selbst infrage stellen, ohne als Antisemit bezeichnet zu werden.

Um welche Slogans geht es?

Um welche Slogans und Forderungen der propalästinensischen Protestbewegung geht es im Einzelnen. Hier eine Auswahl:

Studentinnen in Beirut wollen ein Palästina, das vom Jordan bis zum Mittelmeer reicht –also auch dort, wo heute Israel liegt.
Studentinnen in Beirut wollen ein Palästina, das vom Jordan bis zum Mittelmeer reicht –also auch dort, wo heute Israel liegt.
AP/Hussein Malla

"From the river to the sea, Palestine will be free": Dies ist der bekannteste und umstrittenste Ruf auf den Anti-Israel-Demonstrationen. Hier wird offensichtlich die Auflösung des Staates Israel gefordert, also die Umkehrung der Staatsgründung von 1948. Ob es antisemitisch ist, hängt auch davon ab, was danach mit den knapp sieben Millionen jüdischen Einwohnern Israels passieren soll. Jahrzehntelang forderten arabische Politiker, sie "ins Meer zu treiben", was einem Genozid gleichkommt. Auch die Hamas rief in ihrer ersten Charta von 1988 offen zur Ermordung aller Juden auf. Demonstranten verteidigen sich damit, dass sie heute einen demokratischen Staat mit gleichen Rechten für alle Bewohner wollen. Das wünschen sich auch manche linke Israelis, die die Besatzung ablehnen und eine Zweistaatenlösung für nicht mehr machbar halten. Dieses hehre Motiv bezweifelt Rabinovici allerdings. "Bei 'river to the sea' kann man gegenwärtig nicht mehr davon ausgehen, dass eine Demokratie für alle in der Region gemeint ist. In Wirklichkeit soll Palästina arabisch sein", sagt er.

"Intifada bis zum Sieg": Die erste Intifada, die 1987 ausbrach, war eine Widerstandsbewegung gegen die Besatzung, in der meist mit Steinen auf Soldaten geworfen wurde. Die zweite Intifada war ab 2000 von blutigen Selbstmordattentaten gegen Zivilisten geprägt und hatte die Wirkung, dass der Oslo-Friedensprozess endgültig zusammenbrach. Wer allerdings heute Intifada ruft, meint damit etwas, was dem Massaker der Hamas am 7. Oktober gleicht. Dieser Tag hat das Wort in den Augen vieler völlig vergiftet.

Vor allem an US-Universitäten wird die Forderung erhoben, dass die Verwaltung alle Aktien von Unternehmen mit Geschäft mit oder in Israel verkauft.
Vor allem an US-Universitäten wird die Forderung erhoben, dass die Verwaltung alle Aktien von Unternehmen verkauft, die in oder mit Israel Geschäfte machen.
M. SCOTT BRAUER/The NewYorkTimes

Boykott: Die BDS-Bewegung ("Boykott, Divestment and Sanctions") wurde in Resolutionen von zahlreichen Parlamenten, auch in Deutschland und Österreich, als antisemitisch verurteilt. Das mag auf den ersten Blick verwundern, denn wirtschaftliche Maßnahmen gelten als gewaltfreie Form des Widerstandes gegen ein Land, das zum Klub der westlichen Demokratien gehören will. Erklärt wird dies einerseits mit Parallelen zu "Kauft nicht bei Juden"-Kampagnen der Nazis sowie den Aussagen vieler Organisationen und Aktivisten, die unter dem BDS-Schirm gegen Israelis oder auch Juden hetzen. Das gilt allerdings nicht für alle. Jeden Aufruf an westliche Regierungen, Beziehungen zu Israel zurückzufahren, als antisemitisch abzustempeln geht sicherlich zu weit.

Kolonialstaat: Der Nahostkonflikt ist in den vergangenen Jahren Teil des postkolonialen Diskurses geworden, der den Zionismus zunehmend als Ausdruck der europäischen Kolonialpolitik mit all ihren Verbrechen gesehen hat. Das ist historisch fragwürdig, denn die zionistischen Einwanderer waren keine staatlichen Akteure. Der Begriff Siedlerkolonialismus trifft schon eher zu. Aber auch er ignoriert die Tatsache, dass die Mehrheit der jüdischen Israelis aus arabischen und islamischen Staaten stammen, von wo sie ab 1948 zur Emigration gezwungen oder gedrängt wurden. Der Begriff mag falsch, aber nicht unbedingt antisemitisch sein.

Apartheid-Staat: Die Gleichsetzung von Israel mit dem offen rassistischen Apartheid-Regime in Südafrika ist unzulässig, denn die 1,2 Millionen Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft haben zumindest auf dem Papier volle Bürgerrechte. Die Situation im Westjordanland, wo jüdische Siedler ganz andere Rechte haben als Palästinenser, weist allerdings sehr wohl Ähnlichkeiten mit der früheren südafrikanischen Homeland-Politik auf und entspricht laut einigen Meinungen der völkerrechtlichen Definition von Apartheid durch die Uno. Israelis reagieren allergisch auf den Apartheid-Vorwurf. Aber ist er deshalb antisemitisch?

"Genozid" ist derzeit einer der häufigsten Vorwürfe gegen Israels Militär und Armee - eine auch juristisch höchst umstrittene Behauptung.
AFP/RICK FRIEDMAN

Genozid: Dieser Vorwurf ist für Israelis besonders schmerzhaft, weil Juden selbst Opfer des größten systematischen Völkermords der modernen Geschichte waren, und er ist nach Einschätzung der meisten Völkerrechtler nicht begründet – weder langfristig noch im aktuellen Gazakrieg. Auch der Internationale Gerichtshof hat in seiner Antwort auf Südafrikas Klage nicht einen Genozid für plausibel erklärt, sondern nur das Recht der Palästinenser abgesichert, dies in Zukunft zu behaupten. Nicht jeder, der Genozid ruft, ist Antisemit, aber hinter diesem Vorwurf steckt implizit ein noch schlimmerer:

Gleichsetzung Israel mit NS-Deutschland: "Israelis sind die neuen Nazis" oder "Israel tut das den Palästinensern an, was die Nazis den Juden angetan haben". Diese oft erhobene Behauptung ist nicht nur völlig irrig, dahinter findet sich eine kaum versteckte antisemitische Botschaft: Seht her, ihr seid auch nicht besser als eure Peiniger! Das gilt auch für alle Darstellungen mit Davidstern und Hakenkreuz.

Rabinovicis kurze Antwort auf die Frage lautet: "Es hängt vom Kontext ab." Es sei etwas anderes, wenn Palästinenser in Ramallah oder Gaza Israel vehement ablehnen, als wenn Linke an europäischen Universitäten die eigene antisemitische Geschichte, die zur Gründung Israels geführt hat, ignorieren. (Eric Frey, 11.5.2024)