Giorgia Melonis Pläne für eine Justizreform für Italien enthalten etliche mehr oder weniger populäre Maßnahmen. Die umstrittenste von allen ist zweifellos die geplante Abschaffung des Straftatbestands des Amtsmissbrauchs. In der Tat hat das Vorhaben auch schon in Brüssel zu Stirnrunzeln geführt. In der Praxis führt dieser Tatbestand in Italien tatsächlich zu einem absurden "Leerlauf": Jedes Jahr werden aberdutzende Bürgermeister und Stadtchefinnen, Regionalräte und andere Amtsträger angeklagt – doch in über 90 Prozent der Fälle enden die Verfahren nach vielen Jahren mit einem Freispruch.

Dem früheren Bürgermeister von Varese, Massimo Giordano, wurde etwa Amtsmissbrauch vorgeworfen, weil er es unterlassen hatte, einen Barbesitzer zur Ordnung zu rufen, aus dessen Lokal Lärm drang. Giordano musste zehn Jahre auf seinen Freispruch warten; ihm hatten vier Jahre Gefängnis gedroht.

Naturgemäß haben Regierungschefs viele politische Baustellen zu betreuen. Im Fall der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sind es besonders viele.
REUTERS/Remo Casilli

Ob man allerdings – nur weil übereifrige Staatsanwälte und Untersuchungsrichterinnen wegen Bagatellen Anklage erheben – gleich den Tatbestand als solchen abschaffen muss, ist eine andere Frage. Fakt ist: Die Angst vor Justizproblemen hat die Bürgermeister derart eingeschüchtert, dass sie ihr Amt kaum noch vernünftig auszuüben vermögen.

Bürokratische Ängste

In Italien spricht man von "la paura della firma" – von der Angst, Papiere zu unterzeichnen. Die Folge: Jedes noch so kleine Bauprojekt, jede Ausbesserung des Brunnens auf dem Marktplatz, ja sogar jede Ladesäule für Elektroautos bleibt monate- oder sogar jahrelang blockiert. Kein Wunder, dass Meloni ermuntert wird, die Abschaffung des Amtsmissbrauchstatbestands trotz Bedenken aus Brüssel voranzutreiben.

Das freilich größere Problem sind in Italien die überlangen Verfahrensdauern sowohl in der Zivil- als auch in der Strafjustiz. An den Gerichten sind hunderttausende Verfahren anhängig; zahllose Straftaten verjähren, bevor ein Urteil gefällt wird. Selbst die Behandlung einer simplen Geldforderung kann Jahre dauern. In der Praxis grenzen die überlangen Verfahren an Rechtsverweigerung – das schreckt nicht nur heimische, sondern vor allem auch ausländische Investoren ab.

Für den Ökonomen Francesco Giavazzi von der Mailänder Universität Bocconi ist die ineffiziente Justiz "der größte Bremsklotz für die italienische Wirtschaft" – noch schlimmer als die Mafia.

Nachdem es dem früheren Premier Mario Draghi gelungen war, die Verfahrensdauern und die Zahl der anhängigen Verfahren wenigstens ein bisschen zu reduzieren, wollen nun auch Meloni und ihr parteiloser Justizminister Carlo Nordio den Staatsanwaltschaften und Gerichten Beine machen. Die Senkung der Verfahrensdauer um mindestens 40 Prozent ist eine Vorgabe der EU-Kommission; sie muss bis 2026 erreicht werden, um die Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds nicht zu verspielen. Derzeit liegt die Reduktion bei weniger als 20 Prozent. Italien erhält rund 200 Milliarden Euro aus den EU-Töpfen, mehr als jedes andere Mitgliedsland.

Chronische Personalnot

Die Gründe für die Ineffizienz der italienischen Justiz sind vielfältig. Zu den wichtigsten zählen der chronische Personalmangel in den Gerichtskanzleien sowie ein hochkompliziertes Verfahrens- und Prozessrecht. Hinzu kommt, dass die italienische Justiz eine wohl einzigartige Autonomie genießt: Organisiert und kontrolliert wird die Tätigkeit der Staatsanwaltschaften und Gerichte durch den Consiglio Superiore della Magistratura (CSM), den obersten Richterrat. Dieses Selbstverwaltungsorgan, das nicht vom Parlament, sondern den Richtern, Richterinnen, Staatsanwälten und Staatsanwältinnen gewählt wird, entscheidet nicht nur über die Karrieren, sondern auch über Disziplinarfälle in den eigenen Reihen. Das heißt: Fehlbare Richter und Richterinnen werden von Kollegen und Kolleginnen beurteilt, die wiederum von ihnen gewählt werden wollen.

Meloni und Nordio wollen mit ihrer Reform deshalb auch bei der Selbstverwaltung ansetzen. Unter anderem will die Regierung ein neues, unabhängiges Gremium schaffen, das für Disziplinarfälle zuständig sein und das nicht mehr vom CSM, sondern vom Parlament gewählt wird. Die linke Richtergewerkschaft ANM und andere Kritiker werfen Meloni und Nordio vor, dass damit auf verfassungswidrige Art und Weise in die Autonomie der Justiz eingegriffen werde: Die Regierung wolle die Justiz unter ihre Kontrolle bringen. Nordio, einst ein angesehener Staatsanwalt, bezeichnet diese Vorwürfe als "abwegig".

Vorverurteilungen

Ein weiterer heikler Punkt der Reform betrifft die Veröffentlichung von Gerichtsakten durch die Medien. Auch in diesem Bereich ist Italien ein Sonderfall: Es ist erlaubt, bereits aus dem Überweisungsbeschluss des Untersuchungsrichters an das urteilende Gericht zu zitieren. Das führt regelmäßig dazu, dass Angeklagte, noch bevor sie zum ersten Mal vor den Richter treten, in der Öffentlichkeit vorverurteilt werden.

In Ligurien geschieht das in diesen Tagen gerade dem Regionalpräsidenten Giovanni Toti, dem von der Staatsanwaltschaft Korruption vorgeworfen wird. Meloni und Nordio wollen die Möglichkeit, aus Ermittlungsakten zu zitieren, einschränken und damit der Unschuldsvermutung mehr Beachtung zu verschaffen. Die oppositionelle Fünf-Sterne-Bewegung sieht darin einen "Maulkorb": Die Regierung wolle verhindern, dass die Medien über die Verbrechen der korrupten Politikerkaste berichten.

Die meisten Argumente der Reformkritiker wirken zwar etwas fadenscheinig, aber die umstrittenen Punkte sind derart zahlreich, dass Zweifel aufkommen, ob es der Regierung gelingen wird, die Reform gegen alle Widerstände – vonseiten der EU, der Richterschaft, der Staatsanwaltschaft, der Opposition – durchzusetzen. Es wäre jedenfalls nicht Italiens erste gescheiterte Justizreform. (Dominik Straub aus Rom, 12.5.2024)