Glaubt man den Zeitungen, kennt die türkische Außenpolitik derzeit nur ein Thema: den Krieg in Gaza. Entweder Präsident Recep Tayyip Erdoğan selbst trifft sich mit einem anderen Staatschef, um über den Krieg zu reden – zuletzt war es der Emir von Kuwait, Scheich Meshal al-Jaber, der dieser Tage in Ankara war –, oder sein Außenminister Hakan Fidan nimmt an einer der vielen Konferenzen teil, bei denen über einen Waffenstillstand geredet und ein Ende des Kriegs gefordert wird.

Dabei hat sich Erdoğan ganz eindeutig positioniert – nicht nur rhetorisch. Hatte er zunächst die israelische Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas im Oktober vergangenen Jahres in immer schärferen Worten kritisiert, folgten dem nach den verlorenen Kommunalwahlen am 31. März auch konkrete Taten.

Recep Tayyip Erdoğan positioniert sein Land als starker Kritiker der israelischen Regierung.
AP/Khalil Hamra

Am 20. April empfing Erdoğan die Führungsriege der Hamas wie Staatsgäste in Istanbul. Unter anderem soll er der Hamas angeboten haben, von Katar aus – wo die Scheichs von der zunehmend widersprüchlichen Verhandlungsführung der Hamas so genervt sind, dass sie offenbar erwägen, das Polit-Büro vor die Tür zu setzen – nach Istanbul zu wechseln und in der Türkei ihre Hauptoperationsbasis außerhalb des Gazastreifens einzurichten. Laut türkischen Presseberichten ist der politische Chef der Hamas, Ismail Haniyya, jedenfalls nach wie vor in Istanbul. Bislang hat sich allerdings die Hoffnung Erdoğans, die Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel könnten sich von Katar in die Türkei verlagern, nicht erfüllt: Stattdessen ist nach Katar jetzt Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi der neue Hauptakteur.

Selbst in die Falle getappt?

Anfang Mai ging Erdoğan dann noch einen Schritt weiter: Er verkündete einen allgemeinen Handelsboykott gegenüber Israel, so lange, bis die Regierung unter Benjamin Netanjahu einem Waffenstillstand in Gaza zustimmt. Während die regierungsnahe Presse in der Türkei berichtet, dass sich dadurch etliche Gebrauchsgüter in Israel verteuern würden, schadet der Handelsboykott objektiv vor allem: der Türkei. Nicht nur diplomatisch, weil die Türkei international als vertragsbrüchig dasteht, sondern auch ganz praktisch. Die Importe aus Israel machen in der türkischen Handelsbilanz – bei einem Gesamtvolumen von über sieben Milliarden Dollar – nur ein Viertel aus.

Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass Netanjahu sich davon beeindrucken lässt: Der Boykott und auch die Unterstützung für die Hamas sind für Erdoğan wichtige Signale nach innen. Erstmals seit mehr als 20 Jahren hatte bei den Kommunalwahlen eine islamistische Partei, die Yeniden Refah, Erdoğans AKP erfolgreich herausfordern können und landesweit acht Prozent der Stimmen errungen. Immer wieder hatten die Islamisten Erdoğan vorgeworfen, er würde zwar viel über Gaza reden, letztlich aber nichts Konkretes für die Palästinenser tun. Ob das, was er bislang getan hat, ausreichen wird, um die Islamisten wieder zurückzudrängen, wird sich zeigen. Wahrscheinlich ist es aber nicht.

Dabei hat Erdoğan mit seiner bedingungslosen Unterstützung der Hamas viel außenpolitisches Kapital verspielt. Nach jahrelangem türkischem Drängen hatte US-Präsident Joe Biden den türkischen Präsidenten endlich das erste Mal seit seiner Wahl vor fast vier Jahren ins Weiße Haus eingeladen. Das Treffen hätte am 9. Mai stattfinden sollen – doch nach dem Empfang der Hamas in Istanbul wurde Erdoğan wieder ausgeladen, offiziell "aus Termingründen".

Schauplätze EU und Ukraine

Auch die Beziehungen zur EU könnten durch den Israel-Boykott wieder Schaden nehmen. Schon hört man, dass Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion, die Brüssel Erdoğan angeblich bereits zugesagt hatte, wieder auf die lange Bank geschoben werden sollen. Hier könnte allerdings die Angst, Erdoğan als Türsteher gegen Flüchtlinge zu verlieren, den Ärger über die einseitige Hamas-Unterstützung überwiegen – und die EU doch noch zu Konzessionen bewegen.

Während der Krieg in Gaza in aller Munde ist, ist es in der Türkei um die zweite Front im Norden Europas ruhiger geworden. Im Februar hieß es noch, der russische Präsident Wladimir Putin würde in die Türkei kommen, um Erdoğan in Ankara zu treffen, doch daraus wurde nichts. Putin wollte kurz vor den Präsidentenwahlen dann doch nicht mehr ins Ausland reisen – und auch Erdoğan war es lieber, sich auf den Kommunalwahlkampf konzentrieren zu können. Das war es aber wohl nicht nur. Auch inhaltlich hätte es nicht viel zu reden gegeben: Putin hat kein Interesse mehr an einem neuerlichen Abkommen zum Transport von Getreide durch das Schwarze Meer, er fühlte sich bei dem ersten Abkommen vom Westen hintergangen.

Auch die Ukraine braucht ein solches Abkommen nicht mehr unbedingt, weil sie ihre Küste so weit freigekämpft hat, dass Frachter mittlerweile unbehelligt wieder an der Westküste des Schwarzen Meeres bis zum Bosporus fahren können, ohne von russischen Schiffen angegriffen zu werden.

Thema: Flüchtlinge

Auch bei anderen Themen wird eine Moderation der Türkei zwischen Russland und der Ukraine im Moment nicht gebraucht, Erdoğan betont dennoch, dass die Türkei jederzeit ein Treffen zwischen den beiden Kriegsgegnern ausrichten könnte.

In Richtung Westen hält Erdoğan derzeit die Füße still. Er wartet auf neue Angebote aus Brüssel, wie ein aktualisierter Flüchtlingspakt aussehen könnte. Tatsächlich ist Erdoğan sogar erst einmal in Vorleistung gegangen: Seit einem Treffen mit dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakis Mitsotakis im Herbst in Athen, bei dem ein Neuanfang in den Beziehungen postuliert wurde, greift die türkische Küstenwache viele Flüchtlingsboote auf, bevor sie griechische Hoheitswässer erreichen. Während Griechenland daraufhin einen kleinen Grenzverkehr zwischen der Türkei und den vorgelagerten griechischen Inseln für türkische Touristen ohne Schengen-Visa freigegeben hat, wartet die Türkei auf ein Entgegenkommen der EU bislang vergeblich.

Vor allem bei der Visavergabe durch EU-Länder hakt es seit Monaten gewaltig. Die Wartezeiten sind so lang, dass selbst Geschäftsleute oft nicht zum Zuge kommen, geschweige denn normale Touristen. Anders als bei den Verhandlungen über die Zollunion sind bei der Visavergabe aber alle türkischen Bürger und Bürgerinnen direkt betroffen. Solange die EU in der Visapolitik so restriktiv vorgeht wie bisher, ist es deshalb für Erdoğan leicht, auf den Westen zu schimpfen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 12.5.2024)