Die Ausschreitungen begannen in Neukaledonien am Montag – einen Tag bevor die Nationalversammlung im 18.000 Kilometer entfernten Paris über eine Verfassungsreform abstimmen wollte. Hunderte Jugendliche hatten sich in der Inselhauptstadt Nouméa zu einer Protestkundgebung versammelt. Sie artete alsbald aus: Teilnehmer bauten Barrikaden und griffen Polizeikräfte an; sie zogen brandschatzend durch die Straßen, zerstörten Geschäfte und plünderten Supermärkte.

In der Nacht auf Mittwoch seien drei Menschen getötet worden, meldete ein Regierungsvertreter gegenüber Reuters. Mindestens 60 Polizisten wurden verletzt. 130 Menschen seien festgenommen worden, berichtete der Sender 1ère Nouvelle-Calédonie. Laut Augenzeugen lag über der Hauptstadt Nouméa ein beißender Brandgeruch. Der Hauptflughafen La Tontouta, Schulen und öffentliche Dienstleister bleiben bis auf weiteres geschlossen. Aus Sorge vor Lebensmittelknappheit bildeten sich vor vielen Geschäften lange Schlangen.

Unabhängigkeitsbefürworter protestierten am Montag in Nouméa.
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Mehrere Hundert Fahrzeuge gingen in Flammen auf. Teilweise alkoholisiert, schossen die Randalierer auf Polizisten. Der Inselvorsteher Louis Le Franc erklärte im französischen Fernsehen, er habe einen solchen "Ausbruch des Hasses" noch nie erlebt. Die zumeist Vermummten seien mit Säbeln bewaffnet und schössen mit Jagdgewehren um sich.

Die Proteste schlugen in Gewalt und Brandschatzungen um.
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In Paris rief Präsident Emmanuel Macron zur Ruhe und Besonnenheit auf. Er versprach, die beiden französischen Parlamentskammern würden sich "nicht sofort" versammeln, um den umstrittenen Verfassungszusatz in Kraft zu setzen. Kerninhalt des Vorhabens ist es, in Neukaledonien rund 25.000 Zugewanderten aus dem französischen Mutterland das Wahlrecht zu verleihen, wenn sie länger als zehn Jahre auf der Insel leben. Bisher konnten Siedlerinnen oder Siedler nur dann abstimmen, wenn sie in Neukaledonien vor 1998 eingetroffen waren.

Zahlreiche Autos wurden in Brand gesteckt.
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Die Neuerung hätte zur Folge, dass die Urbewohner des Archipels, die Kanak, bei einer Abstimmung über die von ihnen gewünschte Unabhängigkeit in die Minderheit geraten würden. Sie haben seit langem das Gefühl, von der Zentralmacht Frankreich missachtet zu werden. Nach einer Geiselnahme im Jahre 1988, welche die französischen Präsidentschaftswahlen überschattete, hatten alle Parteien zehn Jahre später das sogenannte Abkommen von Nouméa unterzeichnet, das unter anderem drei Volksabstimmungen zur Frage der Unabhängigkeit vorsah. Die Stimmen der nach 1998 eingereisten Französischstämmigen wurden kurioserweise "eingefroren". Das sollte den Kanak eine Siegeschance geben. In einer ersten Abstimmung erzielten sie 2018 gut 43 Prozent der Stimmen, in einem zweiten Urnengang 2020 dann über 46 Prozent. Die dritte Abstimmung 2021 boykottierten die Ureinwohner, weil sie Manipulationen befürchteten.

In Nouméa wurden Barrikaden errichtet.
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Strategisch wichtige Lage

Tatsache ist, dass die französische Staatsführung die Unabhängigkeit Neukaledoniens unbedingt verhindern will. Die Insel birgt Bodenschätze wie Nickel, das kürzlich auch den US-amerikanischen Unternehmer Elon Musk zu einer Investition veranlasst hat. Vor allem aber ist Neukaledonien strategisch gelegen; es stärkt Frankreichs Positionen im Pazifik gegenüber den Avancen Chinas.

Supermärkte wurden geplündert.
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Die Kanak nehmen es Macron nicht ab, wenn er sich ihnen gegenüber als ehrlicher Mittler gibt. In Wahrheit, so behaupten sie, werde die Zentralmacht Paris den "caillou" (das Steinchen), wie die Hauptinsel Neukaledoniens genannt wird, nie freiwillig aufgeben. Das zeige nun auch die Wahlrechtsreform.

Reform bereits im Abkommen vorgesehen

Auf französischer Seite heißt es dagegen zu Recht, diese Reform sei schon im Abkommen von Nouméa von 1998 vorgesehen gewesen. Es sieht auch die gemeinsame Ausarbeitung eines neuen Inselstatuts bis Juni vor. Eine Lösung wird es allerdings auch nicht bringen: Die Frage der Unabhängigkeit schafft zwei ethnische Lager, die sich unversöhnlich gegenüberstehen und auch durch einen zusätzlichen Autonomieschritt nicht befrieden lassen.

Die Ureinwohner der anderen französischen Überseegebiete – etwa La Réunion, Guadeloupe oder Polynesien – haben bisher auf ihre Unabhängigkeit verzichtet, weil diese gleichbedeutend wäre mit Armut und Arbeitslosigkeit; Frankreich spendiert zudem hohe Subventionen. In Neukaledonien verdächtigt die Pariser Regierung die Kanak hingegen, sie wollten sich von Frankreich lossagen, um sich dann von China helfen zu lassen; im Gegenzug würden sie Peking die Eröffnung eines Militärstützpunktes erlauben. Eine ähnliche Erfahrung macht Paris derzeit in seinen ehemaligen Kolonien in Westafrika: Dort haben es die Russen geschafft, dass die Franzosen aus vier Ländern geworfen wurden.

Fürs Erste rufen die Parteien Frankreichs wie auch der Kanak zur Ruhe auf. Nur der Linkspartei-Politiker Jean-Luc Mélenchon warf Macron hingegen vor, er verstehe die Lage der Kanak schlicht nicht. (Stefan Brändle aus Paris, 15.5.2024)