Die kanadische Literatur-Nobelpreisträgerin Alice Munro
Die kanadische Literatur-Nobelpreisträgerin Alice Munro ist im Alter von 92 Jahren verstorben.
AP/Chad Hipolito

"Ich hoffe, dass die Leute erkennen, dass Kurzgeschichten eine wichtige Kunst sind, und nicht nur etwas, mit dem man herumspielt, bis man einen Roman zustande bringt“, sagte Alice Munro, nachdem ihr 2013 der Literaturnobelpreis für die 14 Erzählbände, die sie seit 1968 veröffentlicht hatte, zugesprochen worden war. Sie schaffe es, die Komplexität eines Romans in wenige Seiten zu packen, erklärte die Schwedische Akademie damals und rief sie zur "Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte" aus.

Eine wahre, aber keine besonders originelle Einschätzung. Denn dessen waren sich Kritik, Kollegen- und Leserschaft zu diesem Zeitpunkt längst bewusst. Schon mit ihrer ersten Kurzgeschichtensammlung Dance of the Happy Shades (auf Deutsch Tanz der seligen Geister) hatte Munro 1968 für Furore gesorgt und die höchste kanadische Auszeichnung für Literatur, den Governor General’s Literary Award, abgeräumt. Den sollte sie noch zweimal gewinnen und dazu so viele andere Preise, dass sie 2009 ihren Band Too Much Happiness aus einer Nominiertenliste zurückzog, weil sie der Meinung war, jüngere Autoren sollten eine Chance auf die Ehrung haben.

Frauen in Kleinstädten

Munros Erzählungen zeichnet bei aller sprachlichen Perfektion und Feinarbeit das Überraschende aus. Häufig stehen Frauen im Mittelpunkt der Geschichten: einfache, aus dem Alltag gegriffene Figuren aus Kleinstädten mit Backsteinhäusern und leeren Landstraßen, in der Gegend um Ontario, wo Munro selbst 1931 als Alice Ann Laidlaw auf einer Silberfuchsfarm in kleine Verhältnisse hineingeboren worden war. Um sie spann Munro Hoffnungen und Enttäuschungen, Obsessionen und Hinfälligkeiten: sie lassen sich scheiden, betrügen betrunken ihre Männer mit deren Kumpeln oder stibitzen Geld von den Eltern, bis diese pleite gehen. Mitunter verfolgte Munro einen Plot mit Zeit- und Ortswechseln über Jahrzehnte. Mit der Zeit wurden die Geschichten weniger, dafür länger und dunkler.

Sich selbst sah sie als Optimistin. Auf die kurze Form war sie aus verschiedenen Gründen gekommen. Einmal, weil sich jene den häuslichen Pflichten („Apfelsaft nachschenken, ans Telefon gehen und die Katze hereinlassen“) einer jung verheirateten und bald dreifachen Mutter schlicht einfacher abringen ließen als lange Romane. Sie verkaufte sie an den Runfunk und Magazine. Andererseits traute sie sich aber auch keine Romane zu, sie kapiere Romane nicht wirklich, meinte sie, verstehe nicht, "wo die Spannung herkommen soll. Wenn ich aber eine Geschichte gut mache, spüre ich die Spannung sofort." Versuchte sie gelegentlich, Geschichten zu dehnen, begannen diese "durchzuhängen". Für ihre zweite Sammlung Lives of Girls and Women (1971) zog sie deshalb die einzelnen Stränge eines Romanmanuskripts nach Monaten Arbeit daran auseinander.

"Arbeitstier"

Kurz darauf ließ sie sich scheiden, zog aus Kanadas Westen wieder zurück in die Gegend um Ontario, wo sie dann mit ihrem zweiten Mann und bis zuletzt lebte. Munro selbst nannte sich ein "Arbeitstier", das aber das Rampenlicht scheute. Alle drei bis vier Jahre erschien so eine neue Sammlung (Wozu wollen Sie das wissen, Das Bettlermädchen), ehe sie Ende der 2010er-Jahre nach gesundheitlichen Problemen erklärte, nicht mehr zu schreiben. Zuletzt litt sie an Demenz. Am Montag ist Alice Munro 92-jährig verstorben. (Michael Wurmitzer, 14.5.2024)