"Ganz Wien ist unser Büro", sinniert ein älterer Mann in gebrochenem Deutsch und deutet über den Votivpark Richtung Innenstadt. Heute zeige sich die Stadt von ihrer widrigen Seite. Er radle gegen Sturmböen an, der Verkehr sei unberechenbar. Seit vier Jahren arbeitet er für den Essenszusteller Foodora. Nicht aus sportlichem Ehrgeiz, betont er. Er habe eine Familie zu ernähren. "Ich brauche den Job, um Brot auf den Tisch zu bekommen."

Alle Zeichen stehen auf Konfrontation: Fahrradboten wehren sich gegen niedrige Gehälter.
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Sein Kollege lenkte einst Busse. Der marode Rücken lasse es nicht mehr zu, also sattelte er auf zwei Räder um. Seine Frau sei als Reinigungskraft beschäftigt, erzählt er. Gemeinsam kämen sie auf 60 Stunden die Woche. "Es reicht gerade fürs Überleben." 140 Euro mehr koste ihn heuer allein die Miete seiner Wohnung. Geld für die Zukunft der Kinder zu sparen sei schon lange nicht mehr drin.

Sich selbst warmes Essen bis vor die Haustür liefern lassen? Ein junger Lieferando-Fahrer schüttelt lachend den Kopf. "Das kann ich mir nicht leisten." Er mache den Job, anders als viele Mitstreiter, die sich nicht aus freien Stücken in prekären Niedriglohnbranchen verdingten, aus Spaß an der Bewegung. Und weil er allein nicht viel brauche, um finanziell über die Runden zu kommen.

42.000 Euro Verlust?

Es ist kleine Truppe an Fahrradboten, die sich am Mittwoch um die Mittagszeit zu einem Streik am Fuße der Votivkirche einfinden. Musik scheppert aus Lautsprechern, Fahnen werden geschwungen, Gewerkschafter zeigen rhetorisch Muskeln. Ob die punktuellen Arbeitsniederlegungen in Wien, Graz, Klagenfurt und Innsbruck wirklich den Nerv der Arbeitgeber treffen? "Wir müssen es versuchen, sonst haben wir schon verloren", betont ein Betriebsrat.

Vier Jahre ist der Kollektivvertrag der Essenszusteller alt. Gerade erst den Kleinkinderschuhen entwachsen, steht er heuer mehr denn je auf wackeligen Beinen. Siebenmal rangen die Sozialpartner in den vergangenen Monaten vergeblich um einen neuen Gehaltsabschluss für 2000 Fahrradboten. Zwischen ihnen klafft eine Kluft von 2,9 Prozent. Seither stehen die Zeichen auf Konfrontation.

30 Jahre alt seien Fahrradboten im Schnitt, sagt Markus Petritsch, Vorsitzender des Fachbereichs Straße in der Gewerkschaft Vida. Fertige man sie mit 5,8 Prozent höheren Löhnen statt der geforderten 8,7 Prozent ab, führe dies bis zu ihrer Pensionierung zu einem Einkommensverlust von 42.000 Euro.

Derzeit radelten die Zusteller mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von im Schnitt 1730 Euro für 40 Stunden und damit hart unter der Armutsgefährdungsgrenze, sagt Petritsch. "Unsere Leute leisten sich keine ausgedehnten Urlaube, sie fahren keine teuren Autos. Sie wollen einfach nur überleben."

Wettlauf um niedrige Preise

Schwer in wirtschaftlicher Bedrängnis sieht Christian Freitag freilich auch ihre Arbeitgeber, die laufend Kunden an Taxis und Kleintransporter verlieren. "Mit deren Preisen können Fahrradboten nicht mithalten", meint der Chefverhandler seitens der Unternehmer. Umweltfreundlichere Logistik sei der Gesellschaft bisher offenbar nicht mehr wert.

Freitag verweist auf Lohnabschlüsse, die in den vergangenen Jahren über der Inflation gelegen seien. Was im Voraus bezahlt wurde, müsse heuer ausgeglichen werden. Er hält es für überlegenswert, den Kollektivvertrag der Essenszusteller in jenem der Gastronomie zu verankern. Zum einen, weil es viele Überschneidungen gebe, zum anderen um Druck aus künftigen Verhandlungen zu nehmen.

Der Job eines Boten hat nichts mit jenem der Gastronomen gemein, hält Fabian Warzilek, Betriebsratschef von Lieferando, entgegen. Die Krise der kleinen Anbieter stellt er nicht in Abrede. Doch die Wirtschaftskammer habe alle Vorschläge, um diese zu entlasten, abgeschmettert.

Die Gewerkschaft habe einen Fairnessfonds angeregt, der Boten ohne Anstellung unterstützt. Einmalzahlungen und Gehaltserhöhung erst ab Dezember seien ebenso in den Raum gestellt worden wie ein Zweijahresabschluss nach Vorbild der Gastronomie. Nichts davon stieß auf Konsens.

Reale Lohneinbußen

Dem gewerkschaftsnahen Momentum-Institut zufolge büßten die Boten in den vergangenen Jahren inflationsbereinigt Lohn ein: Während ihre Einkommen im Mai 2024 im Vergleich zu Anfang 2020 um 15,5 Prozent wuchsen, stiegen die Preise im Schnitt um mehr als ein Viertel.

Letztlich spieße es sich für Essenszusteller, die 40 Stunden die Woche arbeiteten, an nur 20 bis 30 Euro pro Monat, sagt Warzilek. Wie dies den Stundenlohn für Arbeitgeber nach Angaben von Lieferando auf kostspielige 19 Euro treiben soll, sei ihm schleierhaft. Berechnungen der Gewerkschaft zufolge summiere sich dieser nicht auf mehr als 13 Euro.

Dass derartige Beträge für internationale Konzerne mit Milliardenumsätzen unerschwinglich seien, wagt Petritsch zu bezweifeln. Marktbestimmend seien große Spieler wie Lieferando, nicht Fahrradwerkstätten, die sich oft nur nebenbei als Dienstleister auf der letzten Meile engagierten.

Außen vor fahren Foodora und Wolt. Beide bedienen sich weit günstigerer freier Dienstnehmer, wodurch sie Lohnnebenkosten sparen, was den Markt massiv verzerrt. Wer auf eigene Rechnung radelt, hat erhebliche Nachteile rund um Löhne, Urlaubsanspruch und Sozialversicherungsschutz. Auch unfreiwillige Stehzeiten schmälern den Verdienst empfindlich. Schichten zwischen elf und 15 Uhr bzw. 17 und 21 Uhr machen den Alltag der Rider nicht leichter.

Zwei Klassen

Eine neue EU-Richtlinie zur Plattformarbeit will grassierende Scheinselbstständigkeit bekämpfen und den Wildwuchs an Sublieferanten eindämmen. Österreich hat zwei Jahre Zeit, um diese in nationales Recht umzuwandeln. Entscheidend dabei ist die Beweislastumkehr: Künftig müssen Dienstgeber nachweisen, warum Zusteller für sie zu Recht auf selbstständiger Basis arbeiten.

Warzilek sieht darin viel Potenzial, um das Grundproblem der Branche zu lösen, das weit über die Essenszustellung hinausgehe und Jobs quer durch alle Branchen betreffe. "Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft an Arbeitnehmern ist demokratiepolitischer Zündstoff."

Fahrradboten seien weisungsgebunden. Sie radelten bei jedem Wetter, seien angehalten, sich an Fristen wie Ziele zu halten und ihre Arbeitsmittel zu achten, stellt Rita Huber klar, die mit ihrem Gastronomiebetrieb Rita bringt’s täglich 1300 Biospeisen in Wien ausliefert.

Ihrer Erfahrung nach spricht alles für normale Dienstverhältnisse. Und dazu gehöre auch, dass Arbeitgeber Räder, Handys und Navigationsgeräte zur Verfügung stellten. "Zu behaupten, Fahrradboten wollen mehrheitlich Flexibilität und Freiheit, ist eine faule Ausrede."

Huber bezahlt ihre Boten nach dem Kollektivvertrag der Gastronomie. Im Mai wurde dieser für Servicekräfte um sechs Prozent erhöht, ein Plus von zwei Prozent folgt im November. "Das muss leistbar sein."

Weitere Streiks

Um Forderungen der Essenszusteller Nachdruck zu verleihen, sind kommende Woche weitere Streiks geplant. Angesetzt werden sie, wenn es der Branche wehtut: abends etwa, an Freitagen und Samstagen. Warzilek schließt nicht aus, Proteste auf mehrere Tage auszudehnen. Druck lasse sich über große Kunden wie McDonald's, Burger King oder Subway aufbauen. Keiner unter ihnen sei willens, Umsatzeinbußen in Kauf zu nehmen.

Doch welche Schlagkraft haben Streiks wirklich, zumal viele Restaurants über eigene Boten ausliefern und das wachsende Heer an freien Dienstnehmern die Lücken ansatzlos füllt? Die Gewerkschaft ist sich sicher, in der Gastronomie Verbündete zu finden. Diese leidet vielerorts jedoch ihrerseits unter immenser Abhängigkeit von großen Lieferplattformen und beklagt deren hohen Gebühren. Erst jüngst platzte, wie Der Standard berichtete, mehr als 60 Wirten der Kragen. Ein offener Protestbrief gegen das Gebaren von Foodora sorgte für Wirbel.

Finanziell steigt die Gastronomie aus Sicht vieler Zusteller besser aus. Eine Pizza koste Gastronomen gemeinhin drei Euro, verkauft werde sie um 14 Euro, rechnet ein streikender Bote vor. Seine Zunft könne selbstbewusst für höhere Gehälter kämpfen, ohne sich um die Profitabilität der Restaurants sorgen zu müssen. Und selbst wenn Plattformanbieter ein Fünftel der Aufträge verlieren, führe das nicht zwangsläufig zu Entlassungen. Zu hoch sei die Fluktuation unter den Ridern.

Spärliches Trinkgeld

Essenzustellung soll für Konsumenten leistbar bleiben, betont ein Kollege. Doch Geld, das diese dafür bezahlten, müsse bei den Boten ankommen. Immer spärlicher fließendes Trinkgeld mache das Kraut nicht fett. Um 500 Euro habe er jüngst Essen an Kunden ausgeliefert, Trinkgeld gab es dafür keines, erinnert sich ein junger Lieferando-Fahrer.

Bis zu 1400 Kilometer legt er im Monat quer durch Wien zurück. Um mit Hilfe von Zuschlägen halbwegs vernünftig zu verdienen, trete er jeden Sonn- und Feiertag bei jedem Wetter in die Pedale. Allein an seinem Geburtstag habe er sich heuer einen freien Tag gegönnt. "Ein schwerer Fehler. Ich habe 100 Euro dafür gezahlt, um 200 zu verdienen." Machten die Arbeitgeber damit ernst, die Zuschläge für Sonntagsarbeit zu streichen, sei er ein für alle Mal raus aus dem Job. (Verena Kainrath, 15.5.2024)