Beth Gibbons veröffentlicht mit dem kammermusikalischen Artpop von
Beth Gibbons veröffentlicht mit dem kammermusikalischen Artpop von "Lives Outgrown" ein Album des Jahres.
Domino

Wenn man nicht gerade täglich einen Kasperl zum Frühstück verzwickt, dämmert es einem mit Ende 50 schön langsam, dass die fitten Jahre allmählich vorbei sind. Die sogenannte Lebensmitte beruht auf der falschen Annahme, dass wir alle hundert Jahre alt werden. Im Klartext gesprochen, man wird ab diesem Alter längst zu mehr Begräbnissen als zu Hochzeiten eingeladen. Hinsichtlich einer strahlenden Zukunft braucht man also keine Sonnenbrillen mehr.

Mit 59 hat die von den britischen Schwermelancholikern Portishead und ihren erdschweren, verschleppten und verhallten Beats, kratzenden Plattennadeln, Easy-Listening-Samples und der Grundhaltung eines sterbenden Schwans bekannte Sängerin Beth Gibbons nun mit Lives Outgrown (Überwundene Leben) ihr erstes Soloalbum veröffentlicht. Es geht darin um das Sterben, den Tod von Familienmitgliedern, um existenzielle Angst und die auf Lebenserfahrung beruhende Gewissheit, dass alle Zumutungen und Schicksalsschläge auf keinen Fall irgendwie schon überstehbar sind und danach alles besser werden wird. Martin Luther dazu: "Und ob einer entflöhe vor dem Geschrei des Schreckens, so wird er doch in die Grube fallen."

Beth Gibbons

Schon mit den großen Trip-Hop-Wegbereitern Portishead in jungen Jahren war die Stimmung bei Gibbons textlich knapp am Nullpunkt: "Who am I, what and why? / Because all I have left / Is my memories of yesterday", heißt es da im prototypischen Lied Sour Times. Portishead veröffentlichten 1994 mit ihrem Debüt Dummy ein zentrales Album des Jahrzehnts. Im Gegensatz zum quietschbunten Happy-Peppi-Pop oder zu zornigem Grunge setzte man damals auf Langsamkeit und auratische Schwermut. Mit dem hohen, wimmernden und immer knapp vor dem Verstummen intonierten Klageton von Beth Gibbons wurde die Sache noch zusätzlich aufgeladen.

Seit dem letzten Lebenszeichen der Band im Studio, dem Album Third, sind 16 Jahre vergangen. Gelegentlich geben Portishead noch Konzerte. Wer aber die im Halbdunkel gramgebeugt über dem Mikrofon hängende Beth Gibbons schon einmal live erleben durfte, weiß: Das sind unglaublich intensive Auftritte, sie selbst fühlt sich dabei allerdings sehr unwohl.

Beth Gibbons

Auch auf eigenen Pfaden folgte nach ihrem Album Out of Season von 2002 eine lange Stille. Beth Gibbons spielte es gemeinsam mit Rustin Man alias Paul Webb von der Artpop-Band Talk Talk ein. 2019 folgte eine mit Orchester eingespielte Interpretation von Henryk Góreckis Symphonie der Klagelieder. Zuletzt konnte man Gibbons 2022 als tränenerstickt am stimmlichen Limit irrlichternden Gast auf Kendrick Lamars Rap-Track Mother/Sober hören.

Abschied ist ein scharfes Schwert

Von fetten Beats hat sich Beth Gibbons nun musikalisch zu weiten Teilen verabschiedet. Abschied ist ein scharfes Schwert. Die Thematik der über zehn lange Jahre erarbeiteten und aufgenommenen zehn Songs würde das nicht hergeben. So wurde der ebenfalls früher bei Talk Talk beschäftigte Lee Harris im Verein mit dem von Florence and the Machine oder Depeche Mode bekannten Produzenten James Ford im Studio losgeschickt, um Perkussionssounds aus einem Pappendeckel, einer Paellapfanne, mit Erbsen gefüllter Tupperware, einer mit Kuhfell bespannten aufgeschnittenen Wasserflasche oder dem Saitenkasten eines Klaviers zu zaubern. Damit werden die restlichen Instrumente zart tupfend umschmeichelt.

Beth Gibbons

Es kommen an den psychedelischen Folkrock der 1960er-Jahre gemahnende Gerätschaften wie das einlullend eiernde Mellotron, Flöten, Zupfgitarren, eine Kastenzither, Dulcimer und Tandaradei zum Einsatz, dazu Bläser und Streicher. Beth Gibbons gibt dazu die oft recht mittelalterlich aus diversen Ritterfilmen klagende Totenfrau, die mit sich selbst im Chor singt: "The burden of life", heißt es da, "just won't leave us alone."

Hier geschieht das Wunder dieses Albums. Wer all dem Schmerz und den Traumata des Lebens entfliehen will, der muss sich vorher ganz tief darein fallenlassen. Die offen gehaltene, freundlich-wehmütige Musik fängt einen schließlich auf. Am Ende zwitschern die Vögel im Garten, und das Federvieh gackert dazu fröhlich. Alles ist gut. (Christian Schachinger, 16.5.2024)