Das einzige antike Weltwunder, das heute noch steht, sind die Pyramiden von Gizeh. Nicht nur Touristinnen und Touristen, sondern auch Fachleute sind nach wie vor fasziniert von den immensen Bauwerken und den Rätseln, die sie noch umgeben: Erst vor wenigen Tagen erschien eine Studie über eine eigenartige Struktur, die sich am Westfriedhof-Areal noch unter der Erde verbirgt und derzeit erschlossen wird.
Eine neue Forschungsarbeit zeigt, dass sich die Gizeh-Pyramiden und viele andere in der Nähe eines Flusses befanden, der heute längst ausgetrocknet ist. Ein Nebenarm des Nils dürfte 64 Kilometer lang gewesen sein, schreibt das Forschungsteam aus Ägypten, Australien und den USA im Fachjournal Communications Earth & Environment. Als Bezeichnung des verschwundenen Flussarms schlägt das Team um Geologin Eman Ghoneim "Ahramat" vor. Der arabische Begriff lässt sich übersetzen mit "Pyramiden".
Die Vermutung eines ausgetrockneten Flusses in der Nähe ist nicht ganz neu. Östlich der Pyramiden von Gizeh stießen Archäologen auf Spuren von Hafenanlagen. Vor zwei Jahren erschien eine Studie, die anhand von Sedimenten den Wasserpegel rekonstruierte. Demnach dürfte der Wasserstand um 2600 vor Christus, als mit der Cheops-Pyramide das höchste Bauwerk errichtet wurde, für Schifffahrt genügt haben. Damals führte der Nil auch insgesamt mehr Wasser. So konnten Steinblöcke herangeschafft werden, die aus Steinbrüchen nilaufwärts stammten – ohne dass diese kilometerweit über das Land transportiert werden musste, wie es der heutige Nilverlauf annehmen lässt. Das Aufeinanderstapeln gelang mittels Rampen.
Durch Wüstensand und Dürre verschwunden
Die neue Rekonstruktion des Seitenarms erklärt aber auch, warum andere Pyramiden nur scheinbar in unwirtlicher Wüstenlandschaft erbaut wurden. Zu den gut 30 Pyramiden in der Nähe des Ahramat-Arms gehören die Djoser-Stufenpyramide und andere Bauwerke in der Totenstadt von Sakkara sowie jene in der Dahshur-Nekropole. Erbaut wurden sie alle über einen Zeitraum von fast tausend Jahren, ab 2700 vor Christus.
Für lange Zeit "war sich niemand im Klaren über die Lage, die Form, die Größe oder die Nähe dieser riesigen Wasserstraße zum eigentlichen Pyramidengelände", sagt die ägyptisch-amerikanische Erstautorin Ghoneim, die in den USA an der University of North Carolina in Wilmington forscht.
Wo heute Landwirtschaft betrieben wird oder sich die Wüste breitgemacht hat, verlief einst also ein Fluss, 64 Kilometer lang und 200 bis 700 Meter breit. Das ist viel größer, als man dies für andere verschwundene Flussarme in der Region angenommen hat. Laut den Fachleuten dürfte dieser Arm des Nils verlandet sein, weil sich dort immer mehr vom Wind verwehter Sand anhäufte und das Gebiet ab 2200 vor Christus stark austrocknete.
Ankunft der toten Könige
Auch die altägyptische Hauptstadt Memphis lag damit wohl näher am Fluss als gedacht. Passenderweise war eine Ägyptologin der University of Memphis im US-Bundesstaat Tennessee an der Studie beteiligt, Suzanne Onstine. Sie vermutet, dass an den Ufern des Ahramat die Leichenzüge der Pharaonen ankamen, bevor die verstorbenen Herrscher in der Pyramide bestattet wurden.
Für ihre Studie suchte das Team Satellitenbilder nach einem möglichen Flussverlauf ab und entnahm dann mittels Bohrungen in den Untergrund Sedimentproben, um die Annahmen zu prüfen. Indizien für Dammstraßen am Ufer des verschwundenen Arms lassen darauf schließen, dass hier tatsächlich Baumaterialien transportiert wurden. Die Studie ist damit umfangreicher als bisherige Forschungsarbeiten und umfasst auch die Pyramiden von el-Lischt, die sich mehr als 50 Kilometer südlich von Gizeh und Kairo befinden.
Diese Ergebnisse machen deutlich, wie wichtig der Nil als Transportweg und "Kultur-Ader" im alten Ägypten war und wie er sich mit den Umweltbedingungen veränderte, halten die Autorinnen und Autoren fest. Sie hoffen auf die Erforschung weiterer Nebenarme des Nils, an deren Ufern sich weitere archäologische Ausgrabungen auszahlen dürften. (Julia Sica, 18.5.2024)