Aktuell nehmen gravierende Verletzungen des humanitären Völkerrechts ein immer drastischeres Ausmaß an. Zwar werden in Kriegen beinahe immer und von allen Beteiligten solche Verletzungen verübt, oft auch massiv und umfangreich, allerdings ist die Weltöffentlichkeit selten Zeuge davon, wie zum Beispiel derzeit im Sudan. Seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine und seit dem 7. Oktober 2023 in Israel und Gaza verfolgt die Welt aber Angriffe auf grundsätzliche Normen des Völkerrechts und der internationalen Menschenrechte quasi live.

Die Tatsache, dass diese Verstöße trotz der immensen internationalen Aufmerksamkeit immer weitergehen können, hat zur Folge, dass die Schwelle für das, was "erlaubt" ist, immer weiter sinkt. In der Tat kann man sich in Konfliktregionen anderswo nun darauf berufen, dass niemand entschieden genug gegen diese schwerwiegenden Verletzungen vorgeht und Verantwortliche sich daher auch selbst nicht an die verletzten Normen halten müssen.

Internationale Akteure, und vor allem die Großmächte überall auf dieser Welt, sollten sich vor Augen halten, welche Auswirkungen solche Entwicklungen haben. Denn je größer die Brutalität, desto geringer die Chancen Stabilität, Sicherheit und Frieden wiederherstellen zu können. Je stärker die Verhärtung, desto geringer die Chancen und Möglichkeiten, Kriegsparteien überhaupt an einen Tisch zu bekommen.

Verhandlung mit Kriegsverbrechern

Der Umgang mit massiven Verletzungen von humanitärem Völkerrecht und internationalen Menschenrechten stellt internationale Vermittler in der Tat vor ein Dilemma. Einerseits ist dauerhafter Frieden und langfristige Sicherheit ohne Rechenschaft für solche Verletzungen kaum umsetzbar. Andererseits besteht die konkrete Schwierigkeit darin, dass so gut wie alle Kriegsparteien Verletzungen verüben und die Beschuldigten daher zwangsläufig auch unabkömmliche Gesprächspartner:innen in Friedensverhandlungen sind.

Kriege werden heute am Verhandlungstisch gewonnen

Kriege werden heutzutage seltener auf dem Schlachtfeld gewonnen und enden in den meisten Fällen am Verhandlungstisch. Auch in der Ukraine, in Gaza oder dem Sudan deutet immer weniger auf einen entscheidenden militärischen Erfolg hin.

Die Friedenstaube auf der Seite eines Wohnhauses
Gewalt soll eingedämmt, Machtordnung und Machtteilung verhandelt werden.
IMAGO/Hannelore Förster

Verhandlungen zielen in einem ersten Schritt darauf ab, Gewalt einzudämmen oder zu beenden. In weiterer Folge beinhalten Verhandlungsabkommen klassischerweise Mechanismen zur Machtordnung oder Machtteilung. Wären konkrete Mechanismen zur Rechenschaftspflicht, inklusive der Androhung von Strafverfolgung in einem Abkommen vorgesehen, würde das Interesse für Konfliktparteien, sich darauf einzulassen, deutlich sinken.

Konfliktparteien müssen "reif" dafür sein, Rechenschaft abzulegen

Der kolumbianische Friedensprozess stellt eine der wenigen Ausnahmen für eine mehr oder weniger gelungene Behandlung des Dilemmas dar. Nach mehreren Jahrzehnten gewaltsamer Auseinandersetzungen waren konkrete Bestimmungen zur Rechenschaftspflicht ein zentraler Bestandteil der Friedensverhandlungen. Gleichzeitig zeigt das Beispiel, dass es Jahrzehnte dauern kann, bis die Konfliktparteien so ermüdet sind, dass sie trotz allem Frieden zustimmen.

Pragmatismus für nachhaltigen Frieden

Angesichts des derzeitigen Ausmaßes von für alle sichtbaren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen steht die Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit des internationalen Rechtssystems auf dem Prüfstand. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Historische Dokumente wie die Genfer Konventionen oder die Uno-Charta sind nach wie vor die unabkömmlichen Referenzdokumente, die nicht durch ihre massive und dauernde Verletzung verwässert werden sollten. Die internationale Gemeinschaft und vor allem die Großmächte wären beraten, den Druck gegen die Urheber massiver Völkerrechtsverletzungen zu erhöhen. Die Auswirkungen dieser Verstöße der internationalen Ordnung können sich im nächsten (Kriegs-)Fall jederzeit auch gegen jeden von ihnen richten. (Moritz Ehrmann, 5.6.2024)