Warum scheiterten alle Europa-Projekte nach 1918, und warum waren zwei – der Europarat und die Europäische Union – nach 1945 so erfolgreich? Und, im Sinne dieser Blog-Serie: Was war der große Unterschied zu 1918, als es genauso Europa-Bewegte gab, die genauso Einigungsprozesse starteten und die genauso die einflussreichsten Persönlichkeiten ihrer Zeit motivieren konnten?

Europa einigen!
Foto: Midjourney

In den Mittelpunkt dieser Gastblog-Serie zum Thema "Europa-Einiger" stelle ich vier Persönlichkeiten, die im 1920er-Jahre-Wien große und vielversprechende Europa-Bewegungen gestartet haben:

Beleuchtet werden die Parallelen und Unterschiede der Nachkriegszeit zur Zeit nach 1945, sowie die Lehren, die man 100 Jahre später daraus ziehen kann – immer aus dem Blickwinkel von gelingenden (oder in diesem Fall auch: misslingenden) Innovations- und Wandelprozessen.

Europa-Visionäre seit dem Mittelalter

Die Europa-Idee war auch 1918 alles andere als neu. Europa-Visionäre gab es seit dem Mittelalter. Ein Philosoph der französischen Aufklärung war beispielsweise Abbé de Saint-Pierre (1658 bis 1743), der inmitten des spanischen Erbfolgekrieges einen Plan für den ewigen Frieden in Europa propagierte. Oder der französische Nationalschriftsteller Victor Hugo, der schon 1849 auf einer Konferenz von Pazifisten – einer damals brandneuen Bewegung – sagte (wohl auf Französisch): "Es wird der Tag kommen, an dem ihr Frankreich, ihr Russland, ihr Italien, ihr England, ihr Deutschland, ihr alle, die Nationen des Kontinents, ohne eure unterschiedlichen Qualitäten und eure glorreiche Individualität zu verlieren, eng zu einer übergeordneten Einheit verschmelzen werdet und eine europäische Bruderschaft bilden werdet."

Kriegsgräuel als Europa-Motor

Die Europa-Einigung bekam 1918 viel Dynamik, als die Gräuel des Großen Krieges eine "Nie mehr wieder!"-Stimmung auslösten. Sozialdemokraten und Kommunisten setzten darauf noch den Grundsatz: "Arbeiter dürfen nie mehr aufeinander schießen!"

Eine Einigung – oder zumindest bessere Koordinierung – Europas sahen viele der herausragenden Denker als die beste Lösung, wie künftig Kriege zu vermeiden sind. Die Zwischenkriegszeit brachte aber ihre ganz eigenen Vorstellungen hervor, von denen die meisten mit dem heutigen Europa nichts zu tun haben, ja oft absurd klingen.

Krause Ideen am Beginn

Pan-Europa ist die einzige Europa-Bewegung der damaligen Zeit, die tatsächlich einen Einfluss auf das Entstehen des heutigen Europa nach 1945 hatte, die es bis heute gibt und hohes Ansehen genießt. Richard Coudenhove-Kalergi, der Pan-Europa gemeinsam mit Ehefrau und Burgschauspielerin Ida Roland gründete und bis in die Nachkriegszeit führte, wird von vielen – neben Jean Monnet – immer noch als ein Vater der Europabewegung gesehen.

Zu Recht, denn die Coudenhove-Kalergis verstanden es wie niemand anderer, für ihr Pan-Europa zu begeistern, und dabei ihre Vision immer wieder an die Realpolitik anzupassen und damit am Leben zu erhalten. Während das Pan-Europa der Nachkriegszeit für die heutigen europäischen Werte wie Demokratie und Menschenrechte steht, war das in den Anfängen gar nicht so. Richard Coudenhove-Kalergi begeisterte in seinen frühen Publikationen mit der Überzeugung, dass die Menschen nur die richtigen Führer benötigen. In diesem Sinn druckte die Neue Freie Presse am 21. Februar 1923 einen Offenen Brief an Benito Mussolini zur Rettung Europas ab, dem Faschisten-Führer Italiens:

Neue Freie Presse, 21. Februar 1923, Seite 2.
Foto: ÖNB

"Herr Ministerpräsident!
Ich appelliere an Sie im Namen der europäischen Jugend: Retten Sie Europa! … Das einige und mächtige Italien ist berufen, den Erbstreit seiner Schwesternationen zu schlichten und den Grundstein zu legen zur Heilung, Einigung und Erneuerung Europas."

Eine weitere, frühe Vision von Coudenhove-Kalergi führt die Idee aus, dass ein "Zuchtadel" an der Spitze der Gesellschaft stehen solle, inspiriert von Politeia, der gesellschaftlichen Zukunftsvision Platos (aus: "Adel", 1924):

"Die politischen Fähigkeiten des Hochadels sind nicht zuletzt auf seine starke Blutmischung zurückzuführen. Denn diese nationale Rassenmischung weitet vielfach seinen Horizont und paralysiert so die üblen Folgen gleichzeitiger Kasten-Inzucht … Aus diesem Zufallsadel von heute wird die neue internationale und intersoziale Adelsrasse von morgen hervorgehen … Sind erst einmal die künstlichen Schranken gefallen, die Feudalismus und Kapitalismus zwischen den Menschen errichtet haben – dann werden automatisch den bedeutendsten Männern die schönsten Frauen zufallen … die Minderwertigen werden sich mit den Minderwertigen zufrieden geben müssen … So wird der neue Zuchtadel der Zukunft nicht hervorgehen aus den künstlichen Normen menschlicher Kastenbildung, sondern aus den göttlichen Gesetzen erotischer Eugenik."

Das frühe Pan-Europa hatte also mit dem heutigen Europa und seinen Werten nicht viel zu tun. Das gilt genauso für die anderen wichtigen Europa-Einigungsbewegungen, die in den weiteren Folgen dieser Blog-Serie vorgestellt werden: Richard Coudenhove-Kalergi und Ida Klausner (Pan-Europa, Vereinigte Staaten von Europa). Karl Anton Rohan (Europäischer Kulturbund) und Julius Meinl II. (Europäische Wirtschaftstagung).

Auch die Europa-Thesen von Vordenkern wie Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und Robert Musil werden in eigenen Teilen analysiert. Die Serie wird mit den Europa-Ideen der Sozialdemokraten, der katholischen Kirche und von Freimaurern der damaligen Zeit schließen. (Michael Fembek, 3.6.2024)