Flüchtlinge bei Ankunft in Brüssel, Europa
Bei Migration gehen die Emotionen hoch. Ein nüchterner Blick mit wissenschaftlichen Methoden zeigt, dass manche Ängste in der Realität unbegründet sind.
AP/Geert Vanden Wijngaert

Steigende Migration führe zu einer Belastung des Arbeitsmarkts und in der Folge zu höherer Arbeitslosigkeit sowie zu niedrigeren Löhnen. Gleiches gelte für eine Anhebung der Mindestlöhne. So oder so ähnlich lautende Erzählungen werden seit jeher von konservativen Wirtschaftswissenschaftern ebenso wie agendasetzenden Politkern gerne zum Besten gegeben. Intuitiv können diese Thesen sogar eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen. Seriöse Forschung korrigiert das Bauchgefühl jedoch immer öfter.

Dabei sehen sich Forschende aus den Wirtschafts- beziehungsweise Sozialwissenschaften mit einem grundlegenden Problem konfrontiert: Will man die Wirkungen von Faktoren wie Bildung, Migration oder Löhnen auf den Arbeitsmarkt evidenzbasiert untersuchen, benötigt man strenggenommen ein Forschungsdesign, wie man es beispielsweise aus der Medizin kennt. Um dort die Wirkung eines Medikaments als isolierten Faktor zu untersuchen, teilt man die Probanden per Zufall in eine Untersuchungsgruppe und eine Kontrollgruppe ein. Diese sogenannte randomisierte, kontrollierte Studie galt ab den 1980er-Jahren immer mehr Wirtschaftswissenschafterinnen und -wissenschaftern als Ideal, das die herkömmlichen makroökonomischen Modelle ersetzen oder zumindest ergänzen sollte.

Natürliche Experimente

Einer der ersten und sichtbarsten Vertreter dieser neuen Generation von Wirtschaftswissenschaftern, die Ursachen und Wirkungen in ökonomischen Kontexten empirisch untersuchen wollten, ist David Card. Für seine Forschungen zum Einfluss von Mindestlöhnen, Migration und Bildung auf den Arbeitsmarkt erhielt Card 2021, gemeinsam mit zwei weiteren Ökonomen, den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften – inoffiziell als Wirtschaftsnobelpreis bekannt. Der Amerikaner war kürzlich als außerordentlicher Gastprofessor an der Central European University (CEU) in Wien zu Gast. Card verwendet für seine Forschung sogenannte natürliche Experimente. Anders als im Laborumfeld ergibt sich die gewünschte Randomisierung dabei durch "natürliche" Einflüsse wie politische Entscheidungen, institutionelle Regeln oder zufällige Variationen in gesellschaftlichen Prozessen.

David Card - Cause and Effect and Evidence-based Policy
Central European University

Eine frühe Anwendung dieses Prinzips bot ihm die Mariel-Bootskrise von 1980. Im April 1980 öffnete Fidel Castro die kubanische Grenze völlig überraschend. In der Folge emigrierten innerhalb weniger Monate rund 125.000 Kubaner nach Miami – eine "Flüchtlingswelle" in heute gängiger Sprechweise. Dadurch stieg das Potenzial an Arbeitskräften in Miami schlagartig um sieben Prozent. Gemäß der damals vorherrschenden ökonomischen Theorie hätte das zu erhöhter Arbeitslosigkeit führen müssen. Doch genau diese blieb aus. Card verglich Miami mit vier weiteren – nicht von der Migration betroffenen, wirtschaftlich Miami aber hinreichend ähnlichen – amerikanischen Städten. Dabei stellte er fest, dass weder die Durchschnittslöhne sanken noch die Beschäftigungslosigkeit im Vergleich zu den anderen Städten stieg. Zu ähnlichen Resultaten kamen spätere Studien, die andere Forscher mit derselben Methodik unter anderem in Frankreich, Portugal, Russland und Deutschland durchführten.

Einkommenseffekte von Migration

Weitere Forschung zeigte sogar, dass Migration einen positiven Effekt auf das Einkommen haben kann – zumindest jener Menschen, die schon im Land geboren wurden. Zu einem früheren Zeitpunkt eingewanderte Migranten werden hingegen von späterer Migration oft negativ beeinflusst. Dass der Zusammenhang zwischen Zuzug und Arbeitsmarkt oft differenzierter ist, als es verknappte politische Parolen glauben machen wollen, zeigt auch eine aktuelle Studie von Forschern des International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in Laxenburg gemeinsam mit italienischen und russischen Kollegen, die dabei allerdings eine andere Methodik als David Card benutzen.

Das Team hat untersucht, welche Konsequenzen ein hypothetischer Zuzug von 250.000 Migranten auf die österreichische Wirtschaft und den Arbeitsmarkt hätte. Demnach würde aufgrund steigenden Konsums und höherer Investitionen das Bruttoinlandsprodukt sogar steigen. Die Auswirkung auf die Beschäftigung ist komplexer. Insgesamt würde die Arbeitslosigkeit in den kommenden fünf Jahren zwar steigen. Dies jedoch in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark. So wären Frauen weniger stark betroffen als Männer, in Österreich geborene Menschen weniger stark als zugezogene und EU-Bürger weniger stark als Bürger aus Nicht-EU-Staaten.

David Card Porträtfoto
Nobelpreisträger für Wirtschaft: David Card.
EPA

In einer anderen Studie aus dem Jahr 1992, die mittlerweile als Klassiker gilt, untersuchte David Card gemeinsam mit Alan Krueger kausale Effekte des Mindestlohns auf Arbeitslosigkeit. In New Jersey wurde in den frühen 1990er-Jahren der Mindestlohn von 4,25 auf 5,05 Dollar angehoben. Im nahe gelegenen Pennsylvania hingegen nicht. Das erlaubte es, an den beiden Standorten als natürliches Experiment die Entwicklung der Beschäftigung anhand von Fastfood-Restaurants zu untersuchen, wo Löhne generell niedrig sind und die Höhe des Mindestlohns für Beschäftigte eine hohe Relevanz hat. Entgegen gängiger Lehrmeinung zeigte sich in New Jersey keine Veränderung der Beschäftigungszahlen, die sich von der in Pennsylvania signifikant unterschied.

Wissenschaftliche Evidenz und Politik

Als einen Vorteil der Methode natürlicher Experimente nennt Card ihre Transparenz, ihre intuitive Verständlichkeit und die damit verbundene Möglichkeit, der Politik rationale und der Bevölkerung gut kommunizierbare Handlungsgrundlagen zu geben. Faktisch lässt sich allerdings in vielen Ländern eine sukzessive Verschärfung von Einwanderungsregularien beobachten. Spielt wissenschaftliche Evidenz überhaupt eine Rolle außerhalb der akademischen Welt? Diese Frage untersuchte Card gemeinsam mit zwei Kollegen im Jahr 2012 anhand der Daten von 21 Ländern des European Social Survey (ESS).

Die Forschenden stellten fest, dass 80 Prozent der unterschiedlichen Meinungen über Migration nicht auf Ansichten über Wirtschaft oder den Arbeitsmarkt basieren, sondern auf den angenommenen Auswirkungen auf die religiöse, ethnische, kulturelle und sprachliche Zusammensetzung einer Gesellschaft. Bei seinem Wien-Besuch zog Card deshalb das ernüchternde Fazit: "Einige der für die Politik relevanten Fragen können durch wirtschaftliche Analysen beantwortet werden." Aber, so der Wissenschafter: "Ob die Evidenzen von randomisierten, kontrollierten Studien und anderen Methoden wirklich beeinflussen, wie Politik gemacht wird, ist nicht klar." (Raimund Lang, 8.6.2024)