Terry Reintke geht als Spitzenkandidatin sowohl der deutschen als auch der Europäischen Grünen in die EU-Wahl, womit sie offiziell für den Posten der EU-Kommissionspräsidentin kandidiert. Ihre Kernanliegen sind die Weiterführung des Green Deal, das Einhalten der Klimaschutzziele und die Rechtsstaatlichkeit. Eines ist klar, sagt sie: Sollten die Nationalkonservativen zu Verhandlungen eingeladen werden, dann würde sie vom Verhandlungstisch aufstehen.

Auf Lena Schilling angesprochen, reagiert Reintke ausweichend. Die Grünen müssten sich jetzt darauf konzentrieren, eine größtmögliche grüne Fraktion im nächsten Europäischen Parlament zu erreichen.

"Die Grünen sind immer noch eine Friedenspartei. Wir sind für Frieden in der Ukraine. Die Frage ist, wie man dieses Ziel erreicht", sagt Terry Reintke, Spitzenkandidatin der Europäischen Grünen bei der EU-Wahl.
Fotos: Heribert Corn

STANDARD: Als Co-Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament könnten Sie ein Dienstauto nutzen. Haben Sie auch privat ein Auto?

Reintke: Nein, ich habe noch nie ein Auto gehabt, das auf mich zugelassen war. Ich benutze manchmal das Auto meiner Mutter.

STANDARD: Führerschein haben Sie also?

Reintke: Ja. Ein Auto hat sich für mich aber nie gelohnt. Manchmal miete ich eines oder mache Carsharing. Ich bin passionierte Radfahrerin.

STANDARD: Was für ein Auto würden Sie sich kaufen, nach Herz oder nach Verstand entscheiden?

Reintke: Das wird Sie nicht überraschen, ein E-Auto. Ich habe auch die Marke im Kopf. Ein ganz kleines Auto für die Stadt. Es müsste mir schon persönlich zusagen. Ich würde das nicht nur anhand von Eckdaten entscheiden.

STANDARD: Die Autofrage markiert ein Kernproblem der europäischen Klimapolitik, Unterschiede auch zwischen Stadt und Land. Man will die Umweltbelastung drastisch reduzieren, die Autoindustrie steht aber auch für Wirtschaft und Wohlstand, gerade in Deutschland. Hat man sich beim Umstieg vom Verbrenner zu Elektro zu viel vorgenommen?

Reintke: Im Gegenteil! Wir sehen am Beispiel E-Autos, dass viele europäische Autohersteller zu spät auf diesen Zug aufgesprungen sind. Wir hätten viel früher in grüne Technologien investieren müssen. Dann würden wir jetzt nicht vor einer so entscheidenden Herausforderung stehen. Die Lehre muss sein: Wir müssen früh Klarheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher, für die Wirtschaft und Industrie schaffen. Das betrifft das Aus für den fossilen Verbrennermotor genauso wie positive Anreize, zum Beispiel beim schnellen Aufbau eines europäischen Ladenetzes.

Gegen Autos hat Terry Reintke nichts. Fotograf Heribert Corn konnte sie vor dem Interview auf der Gasse für Spiegeleffektexperimente durch die Scheiben eines parkenden Fahrzeugs gewinnen. Sie hatte ihren Spaß daran, auch wenn es ein Verbrenner war.
Heribert Corn

STANDARD: Die Ziele werden bisher deutlich verfehlt. Obwohl die Grünen in Deutschland seit Ende 2021 mitregieren, ging der Absatz von E-Autos zuletzt zurück.

Reintke: Zweieinhalb Jahre sind in einem solch großen Transitionsprozess ja nicht das Ende. Es muss an den richtigen Stellschrauben gedreht werden, in ganz Europa. Insofern macht es einen großen Unterschied, wenn Grüne mitregieren.

STANDARD: Ist 2035 beim Verbrennerverbot tatsächlich ein realistisches Ziel?

Reintke: Ich war zum Beispiel bei BMW, die haben sich längst auf den Weg gemacht. Und die meisten Hersteller sagen, jetzt wieder einen Zickzackkurs zu fahren wäre auch wirtschaftspolitisch nicht klug. Klimaneutralität ist auch für die Planungssicherheit ein richtiges Ziel. Die Autokonzerne haben massiv in den Aufbau von Batteriestandorten investiert. Dass im Übergang nicht immer alles rundläuft, liegt in der Natur der Sache. Wir haben großen Handlungsdruck.

STANDARD: Was hören Sie im Wahlkampf von den Menschen? Viele haben Angst, dass es mit der Wirtschaft bergab geht, man sich den Umstieg gar nicht mehr leisten kann, Stichwort Heizungstausch.

Reintke: Viele Menschen empfinden im Moment Unsicherheit, sehen die Herausforderung. Sie sagen aber gleichzeitig: Wir haben uns Ziele gesetzt, das ist zu schaffen, wir müssen in die Zukunft investieren. Die entscheidende Frage ist: Gibt man den Menschen die Mittel, um genau das zu machen?

STANDARD: Sind die Grünen zu sehr auf Klima fixiert, vernachlässigen dabei gesamtgesellschaftliche Ziele, sind deshalb in Umfragen EU-weit im Hintertreffen?

Unsicherheit und Vertrauensverlust der Menschen seien ein großes Thema, das man bei Wahlkampfeinsätzen auf den Straßen spüre, erzählt die grüne Spitzenkandidatin Terry Reintke. Aber sie ist optimistisch, dass man die Wähler vom Sinn grüner Transformation überzeugen kann.
Heribert Corn

Reintke: Da möchte ich widersprechen. Wir haben in den letzten Jahren viel investiert, um das Thema Klima mit anderen Themen zu verbinden, in Deutschland und in Österreich. Wir wollen die Wirtschaft mit grüner Transformation nach vorne bringen.

STANDARD: Letztlich eine Vertrauensfrage. Was sagen Sie dazu, dass die Grünen nach den Vorwürfen gegen die EU-Spitzenkandidatin und Klimaaktivistin Lena Schilling im Wahlkampf so in die Defensive geraten sind?

Reintke: Ich bin sicher, dass die österreichischen Grünen die Vorwürfe umfassend aufklären werden. Wir konzentrieren uns jetzt auf den Wahlkampf, damit eine größtmögliche grüne Fraktion im nächsten Europäischen Parlament für ein grünes Europa kämpfen kann.

STANDARD: Und wie schätzen Sie das persönlich ein? Sollte die Nummer zwei auf der Liste, der langjährige EU-Abgeordnete Thomas Waitz, der auch Co-Chef der Europäischen Grünen ist, nach vorne rücken?

Reintke: Die Grünen haben in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich grüne Politik für Österreich gemacht. Ich arbeite sehr gut mit Tom Waitz zusammen, in der Partei und im Parlament.

STANDARD: Zurück nach Europa. Welche Themen sind neben Wirtschaft und Klima sonst noch im Vordergrund, wenn Sie im Wahlkampf durch die Länder fahren?

Reintke: Die Menschen haben ein großes Bedürfnis, über Sicherheit zu sprechen, ob wir unsere Demokratie und Freiheit verteidigen können. Es geht um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Oder die Frage, wie können wir in einer Welt bestehen, deren bisherige Ordnung ins Wanken gerät? Oft ist das mit der Frage verbunden, ob die EU Sicherheitsfragen nicht viel zu lange an die USA ausgelagert hat. Die Menschen fragen mich: Wie kriegen wir das hin?

STANDARD: Die Grünen haben diesbezüglich eine deutliche Wende gemacht, befürworten Militärhilfe an die Ukraine. Ihre Antwort auf diese Fragen?

Reintke: Die Grünen sind eine Friedenspartei. Wir sind für Frieden in der Ukraine. Die Frage ist, wie man dieses Ziel erreicht. Sicher nicht, indem sich die Ukrainerinnen und Ukrainer ergeben und Putin damit ermutigt wird, noch ein weiteres Land anzugreifen. Wenn wir die Ukraine bei ihrem Kampf unterstützen, ermöglichen wir Frieden und Freiheit für die Ukraine.

STANDARD: Wie lange hält die EU das durch?

Reintke: Diese Frage muss man vor allem in Kiew stellen, die Ukraine ist ein souveränes Land. Solange die Ukraine sagt, wir können und wollen uns weiter verteidigen, steht die EU dabei an ihrer Seite. Klar ist aber auch: Die Solidaritätsfrage wird von den Mehrheiten im Europäischen Parlament abhängen. Wenn es einen Rechtsruck gibt, wenn die Freunde Putins bei den extremen Rechten mehr Einfluss bekommen, können wir einen Kurswechsel nicht ausschließen.

STANDARD: Was bedeutete es für die EU, wenn die Ukraine fallen würde?

Reintke: Es wäre fatal für die ukrainischen Menschen. Und es würde eine dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage in Europa bedeuten. Darauf müsste die Europäische Union eine gemeinsame europäische Antwort finden.

STANDARD: Täuscht der Eindruck, dass die Grünen sich nicht nur beim Thema Sicherheit stark verändert haben, versuchen, realistischer aufzutreten, weg vom Image der Graswurzelpartei?

Reintke: Ich möchte, dass wir uns als Partei breit aufstellen, damit wir viel bewegen können. Wir haben in den vergangenen Jahren eine Entwicklung bei der Frage durchlaufen, wie wir mit Macht umgehen. Wir wollen sehr klar in Verantwortung reingehen und unsere inhaltlichen Ziele umsetzen.

STANDARD: Gemäß den Umfragen verlieren die Grünen neben Liberalen und Sozialdemokraten deutlich an Sitzen im EU-Parlament.

Reintke: Das ist nicht in Stein gemeißelt. In Deutschland verliert die AfD gerade wieder. Die Wählerschaft ist viel volatiler geworden. Die große Frage ist, wie kommen wir an die Wählerinnen und Wähler wieder heran? Wir müssen zeigen, wie die Energiewende gelingen kann, wie das alles sozial gerecht funktioniert.

STANDARD: Es wird prognostiziert, dass die Grünen von der viert- zur sechststärksten Fraktion werden, die Rechten dazugewinnen. Was hieße das für die nächsten Jahre im EU-Parlament?

Reintke: Wenn die beiden rechten Fraktionen vor uns landen und Teil der Mehrheitsfindung werden, werden sie das Parlament in weiten Teilen blockieren. Machtpolitisch wird daher entscheidend sein, ob die drei großen Fraktionen eine Mehrheit haben und wie komfortabel diese ist.

STANDARD: Sie meinen die Christdemokraten in der EVP, die Sozialdemokraten der S&D und die Liberalen, wie aktuell auch?

Nach der Wahl werde sich eine zentrale Frage stellen: "Wie kriegt man eine Mehrheit zustande, um eine Kommissionspräsidentin und zentrale Gesetzesvorhaben durchzubekommen?", sagt die grüne Co-Fraktionschefin beim Europagespräch im Café Phil in Wien. Ihre Fraktion stehe für eine proeuropäische Mehrheit bereit.
Heribert Corn

Reintke: Genau. Sie hätten noch eine Mehrheit, aber keine, auf die sie sich jederzeit verlassen können. Bei manchen Abstimmungen weichen nationale Delegationen ja auch mal von der Fraktionslinie ab. Dann stellt sich die Frage, wie kriegt man eine Mehrheit zustande, um eine Kommissionspräsidentin und zentrale Gesetzesvorhaben durchzubekommen? An dem Punkt steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein vierter Partner für eine parlamentarische Mehrheit nötig ist. Da sage ich: Die Grünen stehen für Verhandlungen bereit.

STANDARD: Sie würden von der Leyen und ihr Arbeitsprogramm für die neue Kommission unterstützen?

Reintke: Es kommt darauf an, wie die Verhandlungen laufen. Es wird sich nach der Wahl die Frage stellen, ob es eine proeuropäische Mehrheit im Parlament gibt oder ob Teile der EVP einen Rechtsschwenk machen und versuchen, die Fraktion der EKR oder zumindest Teile von ihr an Bord zu nehmen oder eine Zweckgemeinschaft bei Abstimmungen zu bilden.

STANDARD: Die Gruppe der Nationalkonservativen, die "Konservativen und Reformer", die derzeit von der polnischen PiS-Partei geführt wird, wird nach Stand der Dinge vermutlich von den Fratelli von Italiens Premierministerin Georgia Meloni übernommen werden.

Reintke: Ja ... oder in der die spanische Vox ist, die Muslime deportieren möchte. Ich halte die Gedankenspiele über eine Zusammenarbeit für gefährlich. Nicht nur, weil dann der Green Deal unter Beschuss stehen würde. Innerhalb der Europäischen Volkspartei gibt es dazu einen echten Richtungskampf. Wir Grünen sind bereit, Teil der Mehrheitsbildung zu werden. Es geht uns nicht um Macht als Selbstzweck, sondern darum, bestimmte politische Forderungen durchzusetzen. Dazu gehören die Weiterführung des Green Deal, das Erreichen der Klimaschutzziele und, ganz wesentlich, auch die Rechtsstaatlichkeit. Eines ist klar: Sollten die Nationalkonservativen zu Verhandlungen eingeladen werden, dann stehe ich vom Verhandlungstisch auf. (Thomas Mayer, 29.5.2024)