Raphaël Glucksmann ...
Raphaël Glucksmann ...
AFP/DAMIEN MEYER

Was verliert man lieber, wenn man sich entscheiden muss – seine Wähler oder seine Seele? Raphaël Glucksmann mag solche Fragen, die aus einem Kurs für politische Philosophie stammen könnten. Der 44-jährige Listenführer der französischen Sozialisten bei den kommenden Europawahlen ist noch zu wenig lange im Geschäft, um Überzeugungen zu relativieren. "Im Notfall lieber ein paar Abgeordnete weniger", antwortet der Europarlamentarier, der nie von seinem verstorbenen Vater, dem berühmten Philosophen André Glucksmann, spricht.

Die Wähler nehmen dem Sohn seine Aufrichtigkeit offenbar ab: In den Meinungsumfragen kommt seine sozialistische Liste überraschend auf starke 15 Prozent. Die Rechtspopulisten um Marine Le Pen liegen mit 30 Prozent weit vorn; dafür hat Raphaël Glucksmann gute Chancen, die Liste von Präsident Emmanuel Macron (16 Prozent) zu überholen und auf dem zweiten Platz zu landen. Das ist von Bedeutung, weil die Sozialisten – Glucksmann nennt sie neuerdings "Sozialdemokraten" – mit einem solchen Resultat bei den Präsidentschaftswahlen 2027 in die Stichwahl gelangen könnten.

Profiteur von den Umständen

Mit Glucksmann als Kandidat? Auf jeden Fall ist der hochgewachsene Menschenrechtsaktivist mit dem treuherzigen Blick und dem säuerlichen Lächeln der Shootingstar der aktuellen Europawahlen. Noch vor zwei Jahren blieb die damalige sozialistische Kandidatin Anne Hidalgo – ihres Zeichens Bürgermeisterin von Paris – bei den Präsidentschaftswahlen auf katastrophalen 1,7 Prozent der Stimmen sitzen.

Glucksmann profitiert nun teils von den Umständen: Der deutliche Rechtsschwenk Macrons in den letzten Monaten hat links davon viel Raum geschaffen; selbst treue Macron-Wähler der ersten Stunde fallen vom Staatschef ab und kehren zu ihren sozialdemokratischen Wurzeln und Werten zurück.

Die moderat linke Wählerschaft mobilisiert sich auch aus einem anderen Grund viel stärker als zuvor: Der Vorsprung der Rechten mit ihrem Listenführer Jordan Bardella ist mittlerweile so groß, dass ein Sieg Le Pens bei den Präsidentschaftswahlen 2027 durchaus plausibel erscheint. Macron kann 2027 kein drittes Mal mehr antreten, baut aber bisher keinen Nachfolger auf.

Hartes Pflaster

Glucksmann bietet sich als Alternative geradezu an. Der auch als Journalist und Essayist tätige Europaabgeordnete wirkt noch frisch und unverbraucht. Er bleibt Idealist, aber ohne Flausen oder revolutionäre Demagogie, wie sie der Links-außen Jean-Luc Mélenchon erfolglos praktiziert. Glucksmann engagiert sich auch persönlich – zum Beispiel zuerst drei Jahre für den georgischen Ex-Präsidenten Micheil Saakaschwili, dann in einem Dokumentarfilm über den Genozid in Ruanda, in dem er das französische Verhalten anprangert. Aber anders als der mediale Starphilosoph Bernard-Henri Lévy stellt er sich nie selbst in den Vordergrund.

Glucksmann wird sich seine Sporen noch abverdienen müssen, und die Pariser Spitzenpolitik ist ein hartes Pflaster. Bei den TV-Streitgesprächen steht er seinen Mann. Macron wirft er vor, er inszeniere ein "falsches Duell" gegen Le Pen. Zu dem Zweck habe der Staatschef kürzlich das Migrationsrecht verschärft; doch damit überzeuge er keine Le-Pen-Wähler: "Die ziehen das Original der Kopie vor."

Raphaël Glucksmann, hier mit Lionel Jospin, Premierminister unter Jacques Chirac.
... kommt in Frankreich ganz gut an (hier mit Lionel Jospin, Premierminister unter Jacques Chirac).
AFP/ANTONIN UTZ

Dem Listenführer der Le-Pen-Partei, Jordan Bardella, wirft Glucksmann Inkompetenz vor. Und, fast noch schlimmer, Unehrlichkeit: "Die extreme Rechte versteckt ihre Faszination für Putin vor der Öffentlichkeit; dabei stimmt sie im EU-Parlament in Straßburg jedes Mal für die russischen Interessen."

Klare Worte

Bei einem Auftritt vor der Auslandspresse in Paris zeigte er sich offen für ein härteres Vorgehen gegen das Putin-Regime: "Werfen wir die Produktionsbänder an! Die Ukraine braucht Kanonen des Kalibers 155. Frankreich hat bisher deren 500 geschickt, während die Russen an einem Tag bis zu 20.000 Bomben dieser Art abschießen."

Vom STANDARD gefragt, was er von der Putin-Nähe deutscher SPD-Granden halte, hat Glucksmann die Antwort parat: "Die deutsche Regierung unter Führung der SPD leistet der Ukraine ein Vielfaches der französischen Militärhilfe. Macron täte gut daran mitzuziehen."

Der Kandidat, dessen jüdische Familie in Deutschland von der Gestapo gejagt worden war, bezieht ebenso klar Stellung für Palästina. Auch wenn er den "Terrorangriff" der Hamas von letztem Oktober auf Israel verurteilt, wünscht er, dass Frankreich wie Spanien, Irland und Norwegen einen Palästinenserstaat anerkenne. "Man kann ein Volk nicht ewig in der Vorhölle belassen und seine Forderungen zurückweisen." Auf die Gefahr hin, ein paar Wähler zu verlieren. (Stefan Brändle aus Paris, 1.6.2024)