Ein Fußballschiedsrichter hat es oft besonders schwer, die richtige Entscheidung zu treffen.
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In keiner anderen Sportart gibt es auch nur annähernd so viel Diskussionsbedarf wie im Fußball. Grund dafür sind oftmals strittige Schiedsrichterentscheidungen. Die Referees sind manchmal nicht zu beneiden, vieles ist Auslegungssache, sie können es kaum allen recht machen. Der deutsche Schiedsrichterexperte Alexander Feuerherdt sieht diesbezüglich andere Sportarten im Vorteil, weil es "mehr Schwarz-Weiß-Entscheidungen" gebe. "Über diese faktischen Entscheidungen streitet man weniger." Im Fußball sei der Ermessensspielraum für die Schiedsrichter hingegen groß, und er habe dazu beigetragen, dass dieser Sport so populär geworden ist, sagt der Leiter für Kommunikation der Schiris im Deutschen Fußballbund (DFB).

Schiedsrichterentscheidungen mögen manchmal als Produkt reiner Willkür erscheinen. Vielfach gelobt wird jedoch, wenn ein Schiri ein Spiel laufen lässt. Feuerherdt: "Dem Schiedsrichter wird die Möglichkeit eröffnet, sorgsam mit den großen Ermessensspielräumen umzugehen und für Spielfluss zu sorgen. Mehr Schwarz-Weiß-Entscheidungen könnten zur Folge haben, dass jedes Handspiel, jeder Körperkontakt gepfiffen wird. Das will ja eigentlich auch keiner haben", sagt der 54-Jährige, der früher selbst pfiff und nun als Regelreferent auch für die Aus- und Fortbildung der deutschen Schiedsrichter zuständig ist.

Nicht selten sorgen auch vermeintlich kleine Vergehen für großes Echo. Insbesondere im Strafraum, wenn daraus ein Elfer resultieren könnte. So ist etwa die Auslegung eines Handspiels strenger geworden, sie vereinfacht aber die Arbeit der Schiedsrichter. Schiris können sich Fragen wie folgende ersparen: Wäre der Ball tatsächlich zum Tor gekommen? Muss man der Mannschaft jetzt wirklich eine 80-prozentige Torchance geben? Steht die spieltechnische Konsequenz im Verhältnis zum mutmaßlichen Vergehen? "Wenn der Schiedsrichter bewerten müsste, wie groß die Torgefahr tatsächlich war, dann würde das seinen Auslegungsbereich beträchtlich erweitern und damit auch die Streitigkeiten", schätzt Feuerherdt. "Der Fußball lebt immer noch von der Klarheit und Einfachheit der Regeln, auch wenn sie komplexer geworden sind. Die Regeln so zu gestalten, dass sie in jedem Fall eine sogenannte Einzelfallgerechtigkeit schaffen, wäre vielleicht ein Preis, der ein bisschen zu hoch ist."

Alexander Feuerherdt: "Vielleicht ist es so, dass man nicht die absolute Gerechtigkeit schaffen kann. Vielleicht gibt es das perfekte Regelwerk gar nicht."
Jessica Sturmberg

Bei der EM sind die Schiris angehalten, für mehr Transparenz zu sorgen. Strittige Entscheidungen sollen gegenüber den Spielern begründet werden. Wie schon bei der WM in Katar 2022 wird auch wieder die halbautomatische Abseitserkennung eingesetzt. Zwölf Tracking-Kameras und ein Sensor im Ball sollen für schnelle Entscheidungen sorgen. Vermeintlich falsche Abseitsentscheidungen lassen die Gemüter immer wieder hochkochen. Das passive Abseits und der VAR haben diesbezüglich für etwas mehr Gelassenheit gesorgt, auch wenn Entscheidungen des VAR erst recht immer wieder Diskussionen befeuern. "Die Abseitsregel und deren Auslegung wurde sukzessive immer stärker zugunsten der Offensive verändert. Man will ja ganz bewusst, dass Tore fallen. Auch weil die Dominanz des Defensivfußballs in den 1980ern kritisch betrachtet wurde." Damals wurde das bis zur Unansehnlichkeit getriebene Verteidigen (Catenaccio) speziell in Italien zelebriert und perfektioniert.

Eine komplette Abschaffung des Abseits, wie sie etwa Trainerausbildner Manfred Uhlig in einem STANDARD-Interview forderte, sieht Feuerherdt kritisch. Es habe schon diesbezügliche Versuche gegeben, etwa in den Niederlanden. Dabei habe sich herausgestellt, dass zwar nicht, wie befürchtet, jede Mannschaft vorn einen Stürmer reinstellt, der nur darauf wartet, allein auf das Tor zuzulaufen. Aber die Spieler hätten sich schwergetan, weil sie es nicht gewohnt waren. "Es ist nichts, was man kategorisch ablehnen müsste, andererseits haben wir die Abseitsregel schon sehr lange. Sie ist im Laufe der Geschichte oft modifiziert worden, aber irgendwie leben alle damit, auch wenn sie vielleicht manchmal zu komplex – gerade für die Schiedsrichter im Amateurbereich – geworden ist." Ganz einfach aber ist, das sei hier angemerkt: bei einem Abstoß, Eckball oder Einwurf gibt es nie ein Abseits.

Mittel gegen Rudelbildungen

Ein Dorn im Auge sind den Regelhütern und -entwicklern insbesondere Unsportlichkeiten und Rudelbildungen. Während im Rahmen des IFAB (International Football Association Board) ein Testprotokoll für den Amateurbereich geschaffen wurde, wonach der Schiri durch Überkreuzen beider Arme (bevor er sie weit von sich streckt) signalisiert, dass er jetzt nur mit den Kapitänen sprechen will und alle anderen Spieler vier Meter Abstand halten müssen, so ist die Uefa vorgeprescht und setzt dies bereits bei der Euro um. Wickel sollen so eingedämmt werden.

Acht-Sekunden-Regel und Nettospielzeit

In naher Zukunft legal wird, dass man beim Elfer etwas früher in den Strafraum laufen kann, sofern man keinen Einfluss auf das Spielgeschehen nimmt. Damit fügt man sich einem gar nicht selten gezeigten Verhalten, das ohnehin meist nicht sanktioniert wird.

Zukunftsmusik ist weiterhin die Nettospielzeit, wie es sie etwa im Eishockey gibt. Früher kommen dürfte eine Verschärfung der Sechs-Sekunden-Regel, weil Goalies dazu tendieren, den Ball länger als die erlaubten sechs Sekunden in Händen zu halten, Schiris aber "die Riesenaufregung meiden, der infolge eines indirekten Freistoßes im Strafraum entsteht, und daher lieber nicht pfeifen", sagt Feuerherdt. Überlegt und geprobt werden eine Ausweitung auf acht Sekunden und als Sanktion ein Einwurf auf Höhe des Elferpunkts oder ein Eckball. Feuerherdt: "Der Schiedsrichter hält eine Hand hoch und zählt die letzten fünf Sekunden mit den Fingern herunter. Und wenn er bei null eine Faust macht, dann pfeift er."

Kein Nachteil nach Vorteil

Eine kuriose Regelanwendung kann sich aus einem Schiedsrichterball ergeben. Den Ball bekommt dabei jenes Team, das ihn zuletzt berührte, im Strafraum immer der Torhüter. "Weil man nicht möchte, dass irgendein Stress entsteht", sagt Feuerherdt. Aus einem Schiedsrichterball kann wie bei einem indirekten Freistoß ein Tor aber nicht direkt erzielt werden. Landet der Ball nach einem Schiedsrichterball dennoch direkt im Tor, gibt es Abstoß. Landet er direkt im eigenen Tor, gibt es Eckball. "Das gilt für alle Spielfortsetzungen. Das Eigentor würde nicht zählen. Das gilt theoretisch auch bei einem Eckball, auch wenn das in der Praxis schwer vorstellbar ist. Hintergrund ist, dass aus einem Vorteil (Ballbesitz) kein direkter Nachteil werden sollte." Warum gibt es nicht einfach Wiederholung? "Weil die Situation im Prinzip so bewertet wird, als ob das Tor gar nicht dort stünde."

17,86-Quadratmeter-Kasten

Im Leben wie im Fußball ist vieles relativ, die Größe der Tore aber ist fix. Der "Kasten" hat eine Breite von 7,32 Metern und ist 2,44 Meter hoch – gemessen von den Innenseiten der Pfosten. Ein Goalie hat somit 17,86 Quadratmeter abzudecken und damit rund dreimal so viel wie im Handball (drei mal zwei Meter). Doch an dieser Konstante wird gerüttelt. So schlug etwa Italiens Torhüterlegende Gianluigi Buffon vor, das Tor zu vergrößern, um mehr Treffer zu ermöglichen.

Das Spielfeld im Profibereich muss übrigens 105 Meter lang und 68 Meter breit sein. Die Normgröße liegt genau in der Mitte des Spielraums im Amateurbereich, der 90 bis 120 Meter Länge und 45 bis 90 Meter Breite vorsieht, wenngleich es keinen quadratischen Platz geben darf. Ein Profifußballfeld ist mit 7140 Quadratmetern damit 17-mal größer als etwa ein Basketballplatz (28 ×15 = 420).

Im Zentrum des Spielfeldes befindet sich bekanntlich der Mittelkreis, der nur die Funktion hat, dass die Akteure beim Anstoß 9,15 Meter Abstand halten. Ebenso viel Distanz gilt es bei Freistößen und auch beim Elfer einzuhalten. Darum und nur darum gibt es auch einen Teilkreis beim Sechzehner. Darüber muss man nicht diskutieren. (Thomas Hirner, 6.6.2024)