Am 23. August 2019 fallen am helllichten Tag im Berliner Tiergarten plötzlich zwei Schüsse: Der erste trifft Selimchan Changoschwili links der Wirbelsäule, der zweite in den Hinterkopf. Ein Attentat, vermutlich aus Rache für Changoschwilis Beteiligung am Tschetschenienkrieg und später am Konflikt mit Georgien. Russland hatte den Asylwerber einen Terroristen genannt, der Richter im Mordprozess sprach hingegen von "Staatsterrorismus" durch Russland.

Wladimir Putin sitzend
Wladimir Putin bezeichnete den ermordeten Asylwerber als "Terroristen".
AP/Alexander Kazakov

Wadim Krassikow, der verurteilte Attentäter, gab sich vor Gericht als unbeteiligter Tourist aus und bestritt jedwede Verbindung zu russischen Sicherheitsbehörden. Und doch, das zeigen nun Dokumente, die DER STANDARD exklusiv einsehen konnte, hat Moskau für Krassikows Verteidigung sehr viel Geld in die Hand genommen. Die Dokumente wurden dem dänischen Rundfunk DR von einer europäischen Geheimdienstquelle zugespielt, 14 Medien aus elf Ländern haben sie gemeinsam geprüft und ausgewertet, unter ihnen neben dem Spiegel, dem ZDF und dem STANDARD auch Le Monde aus Frankreich und der britische Guardian. Sie zeigen, wie Russland über eine Stiftung mit dem langen Namen "Stiftung für die Unterstützung und den Schutz der Rechte von im Ausland lebenden Landsleuten", meist "Pravfond" abgekürzt, Einflussoperationen durchführt.

Gericht: Mord im Auftrag Russlands

Ein großbürgerlicher, weiß gestrichener Altbau an einer der renommiertesten Adressen Berlins. Hier in der Fasanenstraße, unter schattigen Kastanien und Platanen, hat die Anwaltskanzlei Unger ihren Sitz. Robert Unger, ein hagerer Mann mit Brille, gilt als Promi-Anwalt – Egon Krenz, der ehemaliger Staatsratsvorsitzende der DDR, war einer derjenigen, die er schon verteidigt hat. Zu Ungers aufsehenerregendsten Mandaten gehörte aber sicherlich der Täter im sogenannten Tiergartenmord.

Vieles war unklar, als die Weltöffentlichkeit vor gut drei Jahren den Prozess um die Ermordung eines georgischen Exilanten im Berliner Tiergarten verfolgte. Zur Frage stand nicht nur, ob Robert Ungers Mandant Wadim Krassikow der Mann war, der das Opfer erschoss – sondern auch, ob er überhaupt Wadim Krassikow war. Und nicht etwa ein Bauingenieur namens Sokolow, wie der Angeklagte selbst, russische Regierungsvertreter und Diplomaten und, selbstverständlich, auch sein Rechtsbeistand Unger nicht müde wurden zu erklären. Nach 56 Verhandlungstagen entschied das Berliner Gericht im Dezember 2021: Ungers Mandant war jener Wadim Krassikow – und er war schuldig der heimtückischen Tötung von Selimchan Changoschwili. Das Urteil: eine lebenslange Freiheitsstrafe.

Vielleicht noch entscheidender am Ende: Für das Gericht stand auch fest, dass Krassikow im Auftrag des russischen Staates getötet hatte – was dieser Staat über so gut wie alle seine Kanäle bestritt. "Absurd" wurde der Vorwurf damals von dem russischen Botschafter Sergej Netschajew genannt.

Die obskure Pravfond-Stiftung

Wer nun die geleakten Dokumente durchsieht, stößt auf ein Schreiben Robert Ungers, versehen mit Ungers Unterschrift und Kanzleistempel. Darin ist zum einen sein Honorarsatz festgehalten – nämlich 6000 Euro pro Verhandlungstag, konkret 60.000 Euro für die letzten zehn Tage des Prozesses. Wenn man der Rechnung die 56 Verhandlungstage zugrunde legen würde, käme man demnach auf weit mehr als 300.000 Euro. In dem Schreiben finden sich zum anderen kurze Zusammenfassungen wichtiger Ereignisse an den Verhandlungstagen samt Namen und teilweise auch Inhalte von Zeugenaussagen. Also etwa, dass der Generalbundesanwalt in seinem Plädoyer lebenslang forderte, für Mord. Oder, was Unger in seinem Plädoyer bestritt, nämlich dass Sokolow jener Krassikow war, dass er von den russischen Behörden geschickt worden war und dass die Tötung, so der Angeklagte sie denn begangen habe, ein Mordfall gewesen sei.

Der Versuch, mit Unger ins Gespräch zu kommen, endet an der Tür der Kanzlei, per Mail geschickte konkrete Fragen des ZDF ließ Unger mit Verweis auf die anwaltliche Schweigepflicht inhaltlich weitgehend unbeantwortet. "Abstrakt" weise er aber darauf hin, dass die Stiftung erst im vergangenen Jahr sanktioniert worden sei. Auch sei der Ukrainekrieg zum Verfahrenszeitpunkt noch nicht vorhersehbar gewesen.

Das Geld für Ungers Mandat kommt den geleakten Dokumenten zufolge von der üppig mit Staatsfinanzen ausgestatteten russischen "Stiftung für die Unterstützung und den Schutz der Rechte von im Ausland lebenden Landsleuten", kurz "Pravfond". Deren offizielle Tätigkeit: Rechtshilfezentren für im Ausland lebende Russen zu betreiben, insgesamt 34 in 22 Ländern, eines davon auch in Deutschland, finanziert über einen Verein in Erfurt. So weit, so naheliegend – allerdings gilt diese Stiftung als so nah an Putins Machtzirkel, dass sie im Juni 2023 von der EU sanktioniert wurde, ebenso wie ihr Leiter Alexander Udaltsow. Pravfond wurde 2012 per präsidentielles Dekret vom russischen Außenministerium und der staatlichen Agentur Rossotrudnichestvo ins Leben gerufen, um sich für die "Entwicklung der Demokratie" und "soziale Gerechtigkeit" einzusetzen. Mehrere Nachrichtendienste berichten von Hinweisen, dass es sich bei Pravfond wohl um eine Tarnorganisation russischer Geheimdienste handelt.

Aus dem Dunstkreis der Geheimdienste

Auch in der Sanktionsbegründung der EU heißt es, Pravfond erfülle "außenpolitische Ziele der russischen Regierung" und verbreite Propagandabotschaften des Kreml. Tatsächlich finanziert die Stiftung etwa die Nachrichtenseite Euromore, die nach der Sanktionierung der russischen Propagandamedien Sputnik und RT, das frühere Russia Today, im März 2022 offenbar versucht, an deren Stelle zu treten. In den geleakten Dokumente ist dezidiert beschrieben, dass Euromore nach der "Schließung internationaler Plattformen" forthin "als Alternative dienen" solle.

FSB-Zentrale
Die Zentrale des Inlandsgeheimdienstes FSB in Moskau.
REUTERS/Sergei Karpukhin

Zur Sanktionierung trug auch bei, dass einige Personen aus dem Führungsstab der Stiftung aus dem Dunstkreis der Geheimdienste stammen. So finden sich in der Führungsriege der Stiftung mehrere Personen mit Geheimdiensthintergrund, zwei davon mit Bezug zum russischen Auslandsgeheimdienst SWR, einer sogar ein sanktionierter Agent des russischen Militärgeheimdienstes GRU.

Mögliche Sanktionsverstöße

Die Sanktionierung Pravfonds bedeutet, dass mit der Stiftung weder Verträge eingegangen noch Gelder von der Stiftung angenommen werden dürfen. Genau das ist allerdings etwa in Erfurt weiterhin geschehen, wo die Vorsitzende des Vereins für Integration Gagarin e.V. noch 2024 etwa einen Vertrag über 45.000 Euro von Pravfond unterzeichnet hat, um damit das deutsche Rechtshilfezentrum zu betreiben. Laut Viktor Winkler, Rechtsanwalt und Sanktionsexperte, ein "sehr wahrscheinlicher Sanktionsverstoß" mit womöglich strafrechtlichen Auswirkungen. Dass die Summe laut den Papieren auf ein Moskauer Konto überwiesen werden sollte, könnte in den Bereich der Sanktionsumgehung fallen.

Ein Gespräch lehnt der Vereinsvorstand ab, auf einen umfangreichen Fragenkatalog antwortet er lediglich, "einige Organisationen" hätten sich für die vom Verein vermittelte Rechtsberatung "interessiert" und ihn "unter anderem mit Spenden unterstützt". "Zu keiner Zeit" habe der Verein Gegenleistungen für diese "Spenden" erbracht.

Nun lässt sich einwenden, dass die Summen nicht astronomisch sind, und womöglich scheint auch die Relevanz des Gagarin-Vereins übersichtlich. Immerhin ist der Verein aber so wichtig, dass der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, im April dieses Jahres einen Brief an Pravfond schrieb und betonte, wie wichtig es sei, die Finanzierung des Vereins Gagarin beizubehalten. Ob Netschajew damit bewusst war, dass ein Seiner-Bitte-Nachgeben einen Sanktionsverstoß bedeuten würde? Eine Anfrage ließ er unbeantwortet.

Auch in Österreich aktiv

Laut internen Dokumenten zählen die Rechtshilfezentren in Deutschland und auch Österreich zu den "aktivsten", die Pravfond betreibt. Im Jänner 2023, erst ein halbes Jahr vor der Sanktionierung Pravfonds, wurde das Zentrum in Wien eröffnet, an der gleichen Adresse wie das russische Kulturhaus. Fragen ließ der Ansprechpartner in Österreich, Dmitri Olegowitsch Erochin, unbeantwortet. Im österreichischen Vereinsregister ist das Zentrum als Verein "Dialog – Förderung der kulturellen, rechtlichen und allgemein menschlichen Werte" angemeldet worden. Erochins Stellvertreterin im Verein fiel in Wien mit antiukrainischen Demonstrationen auf und forderte dort die Anerkennung der Krim als russisches Staatsgebiet.

Für Mark Galeotti, britischer Historiker und Experte für russische Sicherheitspolitik, erfüllen Organisationen wie Pravfond eine wichtige Rolle für Russlands Geheimdienste – vor allem, weil seit dem Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine mehr und mehr russische Agenten aus europäischen Botschaften ausgewiesen werden. "Wir haben diese massive Ausweisungswelle im gesamten Westen erlebt, und das hat ein Problem für Russland geschaffen", so Galeotti. "Wenn man nicht mehr durch Personal vor Ort operieren kann, muss man alternative Strukturen finden, die es ermöglichen, in Gemeinschaften einzudringen, Leute umzukrempeln und zu Geheimdienst-Assets zu machen."

Seitdem sich in Russland die Haltung durchgesetzt hat, dass man sich in einer Art unerklärtem Krieg mit dem Westen befinde, wurde Pravfond zu einem Instrument pervertiert, um russische Interessen durchzusetzen, sagt Mark Galeotti. Vor allem die von russischen Agenten im Ausland.

Noch im Juli 2022 versuchte Russland erfolglos, Wadim Krassikow, den Tiergarten-Mörder, für dessen Verteidigung Pravfond zahlte, freizutauschen. Wenige Monate später kam stattdessen Viktor But frei, ein in den USA verurteilter Waffenhändler. Nach zehn Jahren in Haft wurde er im Dezember 2022 in einem Gefangenenaustausch zurück nach Russland überstellt. Auch für But hatte Pravfond den Rechtsbeistand gezahlt: 260.000 Dollar gingen im Jahr 2014 an eine Stiftung seiner Frau. (Carina Huppertz, Bastian Obermayer, Ruben Schaar, Elisa Simantke, 2.6.2024)