Aristide Briand und Gustav Stresemann beim Völkerbund-Treffen im September 1929.
Foto lizenzfrei, Europa-Hintergrund erstellt mit Midjourney

Der große Paneuropa-Kongress 1926 in Wien mit seinem enormen Medienwiderhall war vorbei. Die Euphorie nun in Taten umzusetzen, das erwies sich als unmöglich. Keiner der Kongressbeschlüsse wurde umgesetzt.

Zur Dynamik der Europa-Idee hatte Paneuropa aber bereits entscheidend beigetragen, und die Staaten begannen sich zu bewegen. Der französische Außenminister Aristide Briand trat 1929 an Großbritannien und Deutschland mit der Idee einer europäischen Wirtschaftsunion dieser drei Staaten heran, verbunden mit der Einladung an alle anderen, daran teilzunehmen. Der deutsche Außenminister Gustav Stresemann zeigte Gesprächsbereitschaft, während Großbritannien höflich abwinkte.

Richard Coudenhove-Kalergi bot nun Briand den Ehrenvorsitz seiner Paneuropa-Organisation an, was dieser aber von mehr Europa-Zuspruch in Frankreichs Eliten abhängig machte. Und da hakte es gewaltig. Denn die Tagespolitik war beherrscht vom Streit ums Rheinland. Viele Unternehmen hatten Angst vor fallenden Zollschranken. Und man war sich in Frankreich trotz aller Kriegsauflagen gegen Deutschland sicher, dass die Nachbarn in einer solchen Union den wirtschaftlichen Ton angeben würden.

Im Juli 1929 warben die Coudenhove-Kalergis in österreichischen Tageszeitungen um den Beitritt zur "Massenbewegung Paneuropa", unterfertigt auch vom Ehrenpräsidenten Aristide Briand.
Die Stunde, 23. Juli 1929, Seite 3

Briand beauftragte nun Louis Loucheur, einen Paneuropa-Mitstreiter, eine Art von Wirtschaftsunion zu entwerfen, von der sowohl die deutsche als auch die französische Industrie gestärkt werden, vor allem gegen die Konkurrenz aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Loucheur brachte bald eine Gruppe französischer Industrieller an den Verhandlungstisch, und eine vergleichbare Gruppe aus Deutschland zusammenzustellen, diese Aufgaben übertrugen die Franzosen an Coudenhove-Kalergi. Was Letzterem auch rasch gelang, und zwar rund um den Industriellen Robert Bosch, einen weiteren Paneuropa-Förderer. Auch einige Industrielle aus anderen Staaten gesellten sich in die mächtige Gesprächsrunde (Hitler's Cosmopolitan Bastard, S. 138).

Direkt ins mediale Schussfeld

Richard Coudenhove-Kalergi fand sich nun schlagartig einer andern Rolle: nicht mehr der über allen Interessen stehende Visionär, sondern auf einmal als Lobbyist mitten drin in der Weltpolitik. Und sofort geriet er damit in deren kommunikativen Mühlen. In Deutschland hagelte es Kritik, weil viele in dieser Art von deutsch-französischer Union nur eine Fortführung der "Versaille-Friedensdiktate" sahen, also des ungeliebten Friedensvertrages zwischen Deutschland und den Siegermächten des Großen Weltkrieges. Der Völkische Beobachter, das Leitmedium der erstarkenden Nationalsozialisten in Deutschland, malte bereits die "französisch-jüdische" Dominanz in Europa an die Wand, mit Coudenhove-Kalergi als deren Unterstützer. In Frankreich hielt man ihm umgekehrt vor, nur die Interessen Deutschlands zu vertreten, und wollte in jedem Fall auch Großbritannien eingebunden haben.

Coudenhove-Kalergi reagierte im April 1929 auf die Kritik, die auch aus den eigenen Paneuropa-Reihen kam, unter anderem mit einer Änderung der Statuten der Paneuropa-Organisation, die ihm persönlich mehr Durchgriffsrechte gab. "Wer in einer rein demokratischen Organisation arbeiten will, der soll Heile's Verband für europäische Verständigung beitreten", sagte er deutlich, und meinte damit den deutschen Paneuropa-"Ableger", den der liberale deutsche Politiker Wilhelm Heile 1925 gegründet hatte, und der sich mit Coudenhove-Kalergi exakt wegen dessen autokratischem Führungsstiles schon lange zuvor überworfen hatte.

Die Verkündung der Vereinigten Staaten von Europa

"In Richtung eines neuen Europa": Cover eines französischen Magazins mit der Europa-Vision von Außenminister Aristide Briand, September 1929.
VU Journal de la Semaine

Aristide Briand, mit Coudenhove-Kalergi als einem seiner Europa-Lobbyisten und Sprachrohr, ließ sich von all dem nicht bremsen und stellte am 4. September 1929 beim Völkerbund-Treffen in Genf als erster Spitzenpolitiker die "Vereinigten Staaten von Europa" vor, eine erste Vision einer Europäischen Union, mit Coudenhove-Kalergi und Ehefrau Ida Roland in der Besuchergalerie, die in viele Gespräche am Rande des Treffens mit dabei waren. Ein paar Tage später signalisierte Stresemann die Bereitschaft Deutschlands an einem "Memorandum einer Europäischen Union" mitzuarbeiten. Zumindest um die absurdesten Grenz- und Zollkontrollen abzuschaffen, und eine gemeinsame Koordinierungsstelle zu schaffen, ließ er verlauten (Edition Europa, Denkschrift, Kapitel 2, Seite 19).

Es gab vorsichtig positive Kommentare aus vielen Ländern, mit Ausnahme von Großbritannien, wo Labour-Party Premierminister Ramsay McDonald die Idee für deutlich verfrüht hielt, und man noch einmal zehn Jahre zuwarten solle. Eine katastrophale Fehleinschätzung, wenn man sich vor Augen hält, was genau zehn Jahre später im September 1939 begann (Hitler's Cosmopolitan Bastard, Seite 141).

Ein erstes informelles Treffen eines sogenannten "European Council" fand dann ohne Großbritannien, bei einem informellen Lunch aller interessierten Staaten im Genfer Hotel des Bergues, statt, und Briand wurde beauftragt, einen Vorschlag für das Europa-Memorandum auszuarbeiten. Auch wenn Paneuropa darin nicht erwähnt wurde, wussten wohl alle Beteiligten über deren Wichtigkeit für die aktuelle Dynamik.

Tod von Stresemann und Wall-Street-Crash

Aristide Briand und Gustav Stresemann, hier beim Völkerbund-Treffen im September 1929, hatten bereits gemeinsam den Nobelpreis für ihre Versöhnungsbemühungen zwischen Frankreich und Deutschland erhalten und wollten mit den "Vereinigten Staaten von Europa" den nächsten Schritt setzen. Der frühe Tod von Stresemann nur ein paar Wochen später und gleichzeitig die politischen Erdbeben nach dem Wall-Street-Crash und der einsetzenden Massenarbeitslosigkeit beendeten alle Europa-Bemühungen.
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Briands greifbar werdende Europa-Vision war leider sechs Wochen nach Ankündigung schon wieder Geschichte. Denn am 29. Oktober 1929 starb Gustav Stresemann mit nur 51 Jahren an einem Schlaganfall, sein einziges Gegenüber in Deutschland, dem er vertraute. Und wenige Tage davor hatte der große Crash an der Wall Street jene globale Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit ausgelöst, die endgültig Nationalismus und Rechtsextremismus in Europa zum Durchbruch verhalfen.

Im Mai 1930 fand in der Berliner Singakademie der Zweite Paneuropa-Kongress statt, wo die Coudenhove-Kalergis sich für das Briand'sche Vereinigte Europa ins Zeug legten. Im Bild: Ida Roland mit Thomas Mann, damals einer der angesehensten Schriftsteller und Europa-Aktivist.
Bundesarchiv

Im September 1930, bei der nächsten Tagung des Völkerbundes, wurde nur mehr eine "Studiengruppe im Völkerbund" zum Thema Europa eingesetzt. Und das ausgerechnet unter Vorsitz des Briten Sir Eric Drummond, des Generalsekretärs des Völkerbundes, der Paneuropa im Konflikt mit den Völkerbund-Zielen sah, der ja alle Staaten der Welt unter seinem Dach einen wollte und dem ein Separat-Europa da im Weg stand. Die Studiengruppe wurde drei Jahre später ohne irgendeinen Erfolg aufgelöst. Aber da war in Deutschland auch bereits Adolf Hitler an der Macht und die europäische Welt sowieso eine ganz andere geworden (Hitler's Cosmpolitan Bastard, Seite 154).

Im nächsten Blog geht es darum, wie die Paneuropa-Vision in Ständestaat und Faschismus weiter existierte und im Exil in New York neu erfunden wurde. (Michael Fembek, 25.6.2024)