Seen aus der Vogelperspektive
Seen und Teiche an den Ausläufern der Brooks Range in Alaska. Das Tauen der Permafrostböden führt zu immer mehr sogenannten Thermokarstseen.
Alfred-Wegener-Institut / Josefine Lenz

Rund ein Viertel der Landfläche auf der Nordhalbkugel ist von Permafrostböden bedeckt. In diesen Böden, die sich dadurch auszeichnen, dass sie für mindestens zwei Jahre eine Temperatur unter dem Gefrierpunkt haben, schlummern gewaltige Mengen an organischem Kohlenstoff. Forschende schätzen, dass etwa 1300 bis 1600 Gigatonnen Kohlenstoff aus Tier- und Pflanzenresten im Permafrost gespeichert sind. Das entspricht in etwa der doppelten Menge an Kohlenstoff, die sich derzeit in Form von CO2 in der Erdatmosphäre befindet. Tauen die Böden, werden Mikroorganismen aktiv und könnten große Mengen an Kohlenstoff als CO2 und Methan freisetzen.

Die Permafrostböden werden daher oft als kritisches Kippelement des Klimasystems bezeichnet. Überschreitet ein solches Kippelement einen bestimmten Punkt, verändert es unaufhaltsam und für lange Zeit irreversibel seinen aktuellen Zustand – was wiederum andere Entwicklungen anstoßen, zu Kettenreaktionen führen und den Klimawandel weiter verstärken kann. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) hat die Problematik mit folgender Metapher beschrieben: Schiebt man eine Kaffeetasse ein Stück über den Schreibtischrand, passiert erst nichts. Problematisch wird es, wenn sie einen kritischen Punkt erreicht, an dem sie kippt und abstürzt.

Schon länger ist umstritten, ob der Permafrost, ähnlich wie das Grönländische Eisschild oder die Regen- und Urwälder, zu den Kippelementen gezählt werden kann, also beim Überschreiten eines kritischen Schwellenwertes Auftauprozesse in Gang gesetzt werden, die nicht mehr umkehrbar wären und zu einem globalen Permafrost-Kollaps führen würden. "Nach wissenschaftlicher Datenlage ist dieses Bild nicht korrekt", heißt es nun vonseiten des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts (AWI). In einer im Fachjournal Nature Climate Change veröffentlichten Studie habe sich gezeigt: Es gibt sich selbst verstärkende, teilweise unumkehrbare geologische, hydrologische und physikalische Prozesse. Diese wirken jedoch nur lokal oder regional, "zünden" zu verschiedenen Zeitpunkten und sind nicht in der Lage, auf globaler Ebene eine Katastrophe auszulösen.

Keine Entwarnung

Ein Beispiel für ein regionale Rückkoppelungen sei die Bildung sogenannter Thermokarstseen. Dabei schmilzt Eis in Permafrostböden, die daraufhin absinken. Das Schmelzwasser sammelt sich an der Oberfläche und bildet einen dunklen See, der viel Sonnenenergie absorbiert. Dadurch verstärkt sich die Erwärmung des Permafrosts unter dem See weiter, und es entsteht ein sich selbst verstärkender Tauprozess in dem Gebiet um den See.

Die Darstellung des Permafrosts als globales Kippelement sei jedoch "irreführend", sagt AWI-Experte Jan Nitzbon. "Es gibt keine Evidenz für sich selbst verstärkende interne Prozesse, die ab einem bestimmten Grad der globalen Erwärmung den gesamten Permafrost gleichzeitig erfassen und das Tauen global beschleunigen würden. Auch die geschätzte Freisetzung von Treibhausgasen würde mindestens bis zum Ende des Jahrhunderts nicht zu einem globalen Sprung in der Erderwärmung führen." Das sei aber keine Entwarnung, betonen die Forschenden: Viele kleine lokale Kipppunkte würden zu unterschiedlichen Zeiten und Erwärmungslevels überschritten und über die Zeit akkumulieren. Dadurch verlaufe das weltweite Tauen des Permafrosts "im Gleichschritt mit der globalen Erwärmung ansteigend bis zum Totalverlust bei etwa fünf bis sechs Grad Celsius globaler Erderwärmung".

Abgesunkene schlammige Fläche
Durch das Auftauen der Permafrostböden sinkt die Erde an vielen Stellen, so wie hier auf Herschel Island in der kanadischen Arktis.
Boris Radosavljevic

Das bedeute, dass schon heute und in naher Zukunft mehr und mehr Gebiete unausweichlich vom Auftauen betroffen sind, betonte Nitzbon. Ihre Ergebnisse sehen die Forschenden daher als Beleg für die Notwendigkeit von mehr Klimaschutz und besserem Monitoring. Das Bild des Permafrosts als ein Kipppunkt suggeriere einen "beruhigenden Erwärmungsspielraum, den man bis zum Schwellenwert noch ausreizen kann", erklärte Nitzbon. Diesen gebe es aber nicht. Je schneller die Menschheit CO2-Neutralität erreiche, desto mehr Permafrostgebiete blieben als Lebensraum und Kohlenstoffspeicher erhalten.

Ursprünglich neun Kippelemente

Der Begriff "Kippelemente des Klimasystems der Erde" wurde bereits um das Jahr 2000 diskutiert und dann im Jahr 2008 durch eine Studie im Fachjournal PNAS verfestigt. Die Autoren der Arbeit, darunter die renommierten Klimaforscher Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, definieren diese als "Teilsysteme des Erdsystems, die mindestens subkontinentale Ausmaße haben und unter bestimmten Umständen durch kleine Störungen in einen qualitativ anderen Zustand überführt werden können". Ursprünglich wurden neun potenzielle Elemente identifiziert, später kamen weitere hinzu.

Als Kippelemente, deren Veränderung über einen gewissen Punkt hinaus das Erdklimasystem radikal aus dem Gleichgewicht bringen könnten, gelten heute das Abschmelzen des arktischen Meereises und der Eisschilde in Grönland und der Antarktis, das Absterben des Amazonas-Regenwaldes sowie die Verlangsamung der nordatlantischen Ozeanzirkulation und damit des Golfstroms. Allerdings gibt es in der Forschung große Unsicherheiten, bei welchen Schwellenwerte diese Punkte erreicht sein könnten und in welchem Zeitraum sich der Kollaps des entsprechenden Systems abspielen würde. Insbesondere beim Tauen der Permafrostböden herrschte schon länger Unklarheit.

Kritik am Begriff

Kritisiert wurde in der Fachwelt auch der Begriff "Klimakipppunkt" an sich. Er schüre Ängste und suggeriere, dass das globale Klima schlagartig kippen könne, wenn ein bestimmter Wert der globalen Erwärmung überschritten werde, sagte etwa Martin Claußen vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg voriges Jahr. "Bei den Kippelementen mit der vermutlich größten Wirkung auf die menschliche Gesellschaft – den schmelzenden Inlandeismassen in Grönland und der Antarktis – dauert das 'Kippen' eher Jahrhunderte oder Jahrtausende. Manche der vermuteten Kippelemente – wie das arktische Sommermeereis – zeigen kein Kippverhalten, sondern folgen direkt der globalen Erwärmung und gehen bei einem Rückgang der Erwärmung wieder in ihren gegenwärtigen Zustand zurück."

Auch wenn das Überschreiten von Kipppunkten nicht von heute auf morgen passiert und möglicherweise manche Prozesse "nur" regional ablaufen, seien Kippelemente "wichtige Elemente für das Erdsystem und damit für unser Leben auf dem Planeten, bei denen selbstverstärkende Prozesse zu weitreichenden, teils unumkehrbaren Veränderungen führen können", sagte Ricard Winkelmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. "Klar ist: Angesichts der potenziell einschneidenden Folgen sollten wir das Risiko verschwindend gering halten." (Karin Krichmayr, 4.6.2024)