"Die Klimafrage darf natürlich nicht losgelöst von der sozialen Frage und den ökonomischen Umständen diskutiert werden", sagt Nicolas Schmit. Die Politik müsse "die Menschen mitnehmen".
Heribert Corn

STANDARD: Zuerst die Überraschungsfrage, die wir allen Spitzenkandidaten stellen: Haben Sie auch ein Privatauto?

Schmit: Ich habe ein Hybridauto. Ich wohne auf dem Land, und ich hatte vier Hunde, zwei sind leider gerade verstorben. Deshalb habe ich einen kleinen SUV. Dazu stehe ich auch.

STANDARD: Ist praktisch.

Schmit: Ja, ich muss meine Hunde transportieren, bin mit denen viel unterwegs.

STANDARD: Autos stehen für Industrie, Wohlstand, Millionen Jobs in Europa. Aber jetzt müssen wir wegen Klimaschutz und Energie komplett umdenken, den Wandel hinkriegen. Wie sehen Sie das?

Schmit: Die Autoindustrie beschäftigt so um die 13 bis 14 Millionen Menschen. Wir können nicht einfach sagen, sie hat keine Zukunft mehr, das überlassen wir jetzt den Chinesen oder wem auch immer. Wir müssen dafür sorgen, dass die Automobilindustrie in Europa bleibt. Ob es nach 2035 nur noch Elektroautos geben wird oder doch auch welche mit Wasserstoff, das weiß ich nicht. Das weiß eigentlich keiner. Aber jetzt geht es darum, den Übergang zu gestalten, und ich stehe zu dem Ziel, dass ab 2035 nur noch Autos mit netto null Emissionen zugelassen werden. Das müssen nicht nur Elektroautos sein.

EU-weit arbeiten 14 Millionen Menschen in der Autoindustrie. Damit der Wandel gelinge, brauche es ausgeklügelte Lösungen. Ob ab 2035 neben E-Autos auch Wasserstoffautos zugelassen werden, sei offen, sagt Schmit. Entscheidend sei, dass die Klimaziele bleiben.
Heribert Corn

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, dass die Klimafrage zu sehr dominiert, man zu wenig über die wirtschaftlichen Implikationen redet, über Jobs, soziale Aspekte?

Schmit: Die Klimafrage darf natürlich nicht losgelöst von der sozialen Frage und den ökonomischen Umständen diskutiert werden. Aber der Klimawandel ist eine Realität. Wir können nicht sagen, jetzt legen wir mal eine Pause ein, und dann sehen wir weiter. Nein, der Klimawandel beschleunigt sich, und unsere Antwort darauf muss absolut Priorität bleiben.

STANDARD: Viele können sich den Wandel nicht leisten, sich nicht so einfach ein Elektroauto kaufen oder die Heizung tauschen.

Schmit: Wir müssen sowohl die industrielle Dimension des Wandels wie auch die soziale Dimension stärken, und die Menschen müssen dabei auch mitgenommen werden. Wenn jemand sagt, er kann sich kein Elektroauto leisten, dann müssen wir dafür sorgen, dass wir ihn beim Umstieg unterstützen können. Das machen mittlerweile auch die Chinesen, sie unterstützen den Kauf von Elektroautos massiv, nicht nur im Export.

Nulltoleranz bei Rechtspopulisten und extrem Rechten: Schmit findet es "skandalös", dass Kommissionschefin Ursula von der Leyen den Schulterschluss mit Italiens Premierministerin Giorgia Meloni sucht.
Heribert Corn

STANDARD: So wie die USA auch.

Schmit: Ja, auch die Amerikaner tun das. In Europa machen das einige Länder, aber nur auf nationaler Ebene. Ich denke, dass diese Beihilfe bleiben muss, bis die Autos dann billiger werden.

STANDARD: Man hat den Eindruck, dass die soziale Seite des Wandels immer etwas zu kurz kommt. Warum?

Schmit: Zunächst mal geht es um Jobs. Klimapolitik hat immer Konsequenzen für Arbeitsplätze, ob bei Energie, beim Automobil oder Chemie oder Stahl. Für mich ist das ein zentraler Punkt. Ein Elektroauto hat weniger Bauteile als ein Verbrenner, das hat zum Beispiel enorme Auswirkungen für die Zulieferer. Viele Jobs verändern sich, einige verschwinden auch. Wir müssen uns sehr rasch damit beschäftigen, wie wir diese Transition für die Beschäftigten und für die Unternehmen abfedern und genug begleiten, damit nicht eine große Zahl von Menschen ins Abseits gedrängt wird. Sie müssen sich den Wandel auch leisten können.

STANDARD: Wie löst man das?

Schmit: Wir müssen uns Finanzmodelle überlegen, wie wir die Menschen gezielt direkt unterstützen können. Das ist auch so bei Energiepreisen. Wir führen jetzt CO2-Zertifikate bei Wohnungen und Autos ein. Das belastet viele Menschen. Das müssen wir ausbalancieren. Dazu müssen wir den sozialen Dialog verbessern, mehr mit den Menschen reden. Ich bin in diesem Zusammenhang sehr von Jacques Delors beeinflusst.

STANDARD: Dem legendären Kommissionspräsidenten von 1985 bis 1995 – inwiefern?

Schmit: Er hat Politik immer so verstanden, dass man sie auf sozialen Dialog aufbauen soll. Das hätte man aktuell bei der Klimapolitik besser machen können. Die Politik des Green Deal, des ökologischen Wandels muss unbedingt beibehalten werden. Die Ziele werden nicht infrage gestellt. Aber wir müssen das jetzt stärker sozial begleiten, auf ein soziales Fundament stellen. Die Bürger und die Industrie sind bereit, diesen Weg mitzugehen, aber die Politik muss ihnen die Möglichkeit geben für Investitionen und Unterstützung.

Kurze Erfrischung im Wahlkampf: Der EU-Sozialkommissar reist kreuz und quer durch Europa. Migration sei gar nicht so sehr das Hauptthema, erzählt der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten.
Heribert Corn

STANDARD: Sie sprechen für die Industrie?

Schmit: Ich glaube stark daran, dass wir in Europa eine industrielle Basis haben müssen. Industrie ist eine Notwendigkeit für Europa, auch aus strategischen Gründen und für den Wohlstand.

STANDARD: Kommen wir zum nächsten wichtigen Thema, Krieg, Sicherheit, Migration.

Schmit: Ich muss sagen, Migration ist nicht ein Hauptthema, das die Menschen Tag und Nacht beschäftigt. Es ist aber ein Thema, dem man nicht entkommen kann und soll. Wir müssen dabei Lösungen finden. Der Unterschied ist, dass die Rechten daraus ein toxisches Thema machen, um Angst zu schüren und daraus politische Gewinne zu ziehen.

STANDARD: War die Kommission in Sachen Migration und Asyl zu defensiv?

Schmit: Nein, die Kommission hat ja einen Pakt vorgeschlagen. Es hat viel Zeit gebraucht, sich zu einigen, im Parlament und in den Mitgliedsstaaten. Es ist ein schwieriges Thema, bei dem die Meinungen weit auseinandergehen. Ist der Migrationspakt ideal? Ich meine nein, aber es ist ein Kompromiss, mit dem man arbeiten kann.

STANDARD: Was ist Ihre Lösung?

Schmit: Für mich ist wesentlich, wie man die Menschen behandelt. Die menschlichen Werte, für die Europa steht, dürfen nicht vergessen werden. Wir müssen immer den ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes vor Augen behalten.

STANDARD: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Schmit: Das EU-Abkommen hat der tunesischen Regierung, angeführt von einem Autokraten, das Schicksal tausender Menschen anvertraut. Man will gar nicht wissen, was mit denen geschieht. Zweiter Punkt: Natürlich brauchen wir Kontrollen, effizientere Maßnahmen, um die Asylprozeduren schneller zu machen. Dazu braucht es Ressourcen, um Menschen auch wieder rückzuführen, wenn sie kein Recht auf Aufenthalt haben. Anschließend müssen wir uns mehr mit den Ursachen der Fluchtbewegungen beschäftigen.

Sollte die SPE die Wahl gewinnen und er Präsident der EU-Kommission werden, will er vor allem Offenheit und Dialog mit den Bürgern fördern: Nicolas Schmit beim Interview im Schweizerhaus im Wiener Prater.
Heribert Corn

STANDARD: Wie dominant ist der Krieg in der Ukraine?

Schmit: Es gibt eine Zeitenwende. Wir müssen uns in Europa bewusst werden, dass unsere Sicherheit nicht selbstverständlich ist. Wir haben ein doppeltes Risiko. Das eine ist die Aggressionslust von Putin, die sich in der Ukraine zeigt, die sich ausdehnen könnte auf andere Länder. Das andere ist, dass wir uns nicht mehr sicher sein können, dass unsere Freunde jenseits des Atlantiks unsere Sicherheit weiterhin garantieren.

STANDARD: Sie meinen Donald Trump, wenn er die US-Präsidentschaftswahl gewinnt?

Schmit: Deshalb brauchen wir eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit Zähnen. Schöne Analysen reichen nicht. Wir brauchen mehr Möglichkeiten für unsere Sicherheit, auch eine europäische Verteidigungsindustrie. Das funktioniert nur, wenn sich die Europäer entscheiden, dabei zusammenzuarbeiten, die Beschaffung gemeinsam zu machen.

STANDARD: Das dritte wichtige Thema in Ihrem Wahlprogramm sind Demokratie und Rechtsstaat. Befürchten Sie einen Rechtsruck?

Schmit: Für uns Sozialdemokraten ist die Verteidigung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit lebenswichtig. Deshalb kann es auch keine Arrangements oder Vereinbarungen mit Leuten geben, für die Demokratie wenig bedeutet. Ich sehe das in Italien, in Spanien und Portugal ganz konkret. Ich sehe das in Ungarn mit Viktor Orbán, der die Demokratie eigentlich schon abgeschafft hat. Das ist eine gesamteuropäische Frage. Die Angst, die Verunsicherung wird geschürt und ist enorm, es gab und gibt viele Krisen. Daraus folgt, dass viele Menschen den traditionellen Parteien nicht mehr trauen.

STANDARD: Sie und Ursula von der Leyen sind Spitzenkandidaten der Fraktionen im EU-Parlament. Einer von Ihnen soll die Kommission bis 2029 führen, wenn die Regierungschefs Sie vorschlagen. Was haben Sie vor?

Schmit: Ein Kommissionspräsident wird auf Basis eines Programms gewählt, das er oder sie im Parlament vorstellt. Ich stehe für eine starke Wirtschaft mit dem Green Deal, das heißt mit dem Ziel, die Dekarbonisierung und Investitionen in ganz Europa zu fördern. Dabei gilt es, das Soziale auf allen Ebenen in die Politiken einzubauen.

STANDARD: Wie würden sie die Kommission führen?

Schmit: Was die Arbeit der Kommission betrifft, muss die Governance, die Art, wie geführt wird, verbessert werden. Bisher ist die Art und Weise, wie Entscheidungen vorbereitet und getroffen werden, nicht sehr transparent. Ich werde dafür sorgen, dass es mehr Transparenz und mehr Dialog gibt. Wenn die Sozialdemokraten erste politische Kraft werden, dann erheben wir natürlich auch Anspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten.

STANDARD: Was ist, wenn die Christdemokraten mit von der Leyen stärkste Fraktion bleiben?

Schmit: Ich würde mit denen verhandeln, mit denen man am Ende eine Mehrheit im Parlament bilden kann, natürlich auch mit der EVP, mit den Grünen und den Liberalen, mit allen demokratischen Parteien, die im Parlament vertreten sind.

Nicolas Schmit in Wien: "Für uns Sozialdemokraten ist die Verteidigung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit lebenswichtig. Deshalb kann es auch keine Arrangements oder Vereinbarungen mit Leuten geben, für die Demokratie wenig bedeutet."
Heribert Corn

STANDARD: Von der Leyen hat auch eine Zusammenarbeit mit den Rechten der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nicht ausgeschlossen. Sie auch?

Schmit: Ich finde das skandalös, es ist eine Legitimierung einer Politik, die in Italien jetzt schon ihr wahres Gesicht zeigt. Von der Leyen hat drei Bedingungen aufgestellt, eine ist, dass ein Partner pro Europa sein muss. Das muss man mir erst einmal beweisen, dass Meloni für Europa ist. Sie ist eine Nationalistin, die eigentlich gegen Europa ist.

STANDARD: Es gibt zwei rechte Fraktionen im EU-Parlament, eine um Le Pen, Lega und FPÖ gilt als extrem, die andere ist die mit den Fratelli von Meloni und der polnischen PiS, die Nationalkonservativen, die ECR.

Schmit: Es gibt nicht die guten und die bösen Extremrechten. Es wird gesagt, die ECR seien die Guten, mit denen könne man irgendwie verhandeln. Nein, beide sind extrem rechts, auch Meloni, wenn man sich anschaut, wer in Italien für ihre Partei steht. Oder die PiS, wollte die den Rechtsstaat in Polen aushöhlen? Ja. Die Vox aus Spanien, das sind Neofrancisten.

STANDARD: Also für Sie keine Partner?

Schmit: Weder die ID-Fraktion noch die ECR können Partner sein, ich würde mit denen nie koalieren. Sollte von der Leyen mit denen zusammenarbeiten, dann kann sie nicht auf unsere Unterstützung zählen. (Thomas Mayer, 5.6.2024)