Blick in die Raffinerie der OMV in Schwechat
In der Raffinerie Schwechat verarbeitet die OMV Erdöl zu Treibstoffen, beliefert aber auch die am Nachbargrundstück gelegene Kunststofftochter Borealis mit Kohlenwasserstoffen zur Weiterverarbeitung.
Heribert Corn

Weniger Öl, mehr Chemie. Das schien das Rezept zu sein, mit dem nicht nur, aber auch die heimische OMV gesunden sollte. Man schrieb das Jahr 2020, Corona war in aller Munde und der Ölpreis wieder einmal stark unter Druck. Zudem war die Aussicht, dass sich die Gemengelage in absehbarer Zeit substanziell verbessern könnte, mehr als trübe. Gegen die Erderhitzung schien damals und scheint auch heute kein Kraut gewachsen zu sein, außer weniger Öl bzw. Gas verbrennen. Verluste im Kerngeschäft schienen damit auf Dauer programmiert.

Irgendwie logisch also, auf Chemie umzuschwenken, wenn man in der Lage dazu war wie die OMV mit einer damals schon recht ansehnlichen Borealis im Beiwagerl. Rainer Seele, Vorgänger von Alfred Stern an der Spitze des Konzerns, hat die Weichen für eine Stärkung der Chemie- und Kunststoffsparte gestellt. "Wir sind kein Mineralölkonzern mehr, wir sind Öl, Gas und Chemie", sagte der aus Deutschland stammende Manager 2019 – und handelte sich den Ärger der gestandenen OMVler ein, bei denen Öl und Gas quasi in den Genen steckt.

Wachstumsmotor Chemie

Stern, der von Borealis kommend im April 2021 die Leitung des neu geschaffenen OMV-Bereichs Chemicals & Materials übernommen und im September desselben Jahres die Nachfolge des vorzeitig aus dem Unternehmen gedrängten Seele angetreten hat, setzte die Strategie fort. Und baute sie, beraten durch ein Team von McKinsey-Leuten, aus. Anlässlich des Kapitalmarkttags im März 2022 wurde der Bereich Chemicals & Materials als der zukünftig wichtigste Wachstumsmotor der OMV präsentiert – ehrgeizige Wachstumsziele inklusive.

An den Kapitalmarkt gerichtet, hat die OMV nun vor wenigen Wochen präzisiert, dass im Jahr 2030 rund die Hälfte des Betriebsergebnisses (Clean Operating Results) von geplant sechs Milliarden Euro aus dem Bereich Chemical & Materials kommen sollen. Im Schnitt der Jahre 2019 bis 2021 waren es 29 Prozent, bei einem durchschnittlichen Betriebsergebnis von 3,8 Milliarden. Auch bei der Hauptversammlung vorige Woche kein Wort, dass man davon abrücken, Ziele anpassen, die Strategie möglicherweise überdenken müsse, weil sich die Situation geändert habe.

OMV-Chef Alfred Stern in der Firmenzentrale in Wien
OMV-Chef Alfred Stern hält an der Strategie fest, die Chemie im Konzern zu stärken.
APA/AFP/JOE KLAMAR

Die Situation hat sich aber nach Ansicht von Experten fundamental geändert. Die Margen waren zum Zeitpunkt der ursprünglichen Strategieentwicklung in der zweiten Jahreshälfte 2021 außerordentlich hoch, Polyethylen und Polypropylen erreichten im zweiten Quartal 2021 mit 803 bzw. 898 Euro je Tonne historische Höchststände. Kurz nachdem die Strategie im März 2022 vorgestellt worden war, kam das Chemiegeschäft global massiv unter Druck.

Da war doch was 2022? Am 24. Februar begann der völkerrechtswidrige Einmarsch Russlands in die Ukraine, die Energiepreise schnellten in die Höhe. Weil die Entwicklung der Chemiemargen in Abhängigkeit zu den Energiekosten steht, hatte das Folgen: Je teurer Erdöl – Energie generell – ist, desto niedriger der Gewinn.

Kein Ende der Krise in Sicht

Dass die Krise länger dauern wird, wurde vom Verband der Chemischen Industrie im Jahresbericht 2022 vorhergesagt, auch vom Verband der Europäischen Chemischen Industrie. Besserung gab es auch 2023 nicht. Die Chemiemargen grundelten auf ihren Tiefständen dahin. Haupttreiber waren plötzlich die hohe Inflation und die gestiegenen Zinsen, gepaart mit Rezessionsvorzeichen vor allem in Europa. Tatsächlich erreichte der Preis für Polyethylen im Sommer 2023 mit 308 Euro je Tonne einen Tiefpunkt. Mit durchschnittlich 348 Euro je Tonne lag der Preis in den ersten drei Monaten des heurigen Jahres nur unwesentlich darüber. Und die Zukunft bleibt düster, Prognosen zufolge bis 2030.

Die Strategieberatung Oliver Wyman hat klare Worte gefunden. In "The Chemical Industrial Outlook for 2024 and beyond" schreiben die Berater, dass Chemiekonzerne sich adaptieren und größere Resilienz gegenüber diesen Unsicherheiten aufbauen müssen. Wesentlich werde neben Programmen zur Steigerung der Kosteneffizienz auch eine Änderung des Portfolios sein.

Neues Ungemach droht

Die OMV hält an ihrer Strategie fest, auch wenn neues Ungemach droht. Der Preisdruck könnte durch neue Kapazitäten und erhöhte Importe aus Asien und den USA stärker werden. Zudem droht ein Volumendruck durch eine geringere Kaufkraft der Verbraucher, vom Kostendruck durch angespannte Energiemärkte, Lohninflation und steigende Preise nicht zu reden. Ganz nebenbei könnte Borealis bei einem Gelingen der Fusion mit dem Emirate-Joint-Venture Borouge aus dem Konsolidierungskreis der OMV fallen.

"Der Markt wird wachsen, insbesondere aufgrund der wachsenden Zahl von Menschen, die in wirtschaftlichem Wohlstand leben. Zugleich müssen wir die schwindenden Ressourcen und die immer größer werdende Klimabedrohung im Auge behalten", heißt es bei OMV. Und weiter: "Dazu wird Chemical & Materials einen wichtigen Beitrag leisten, z. B. durch die beschleunigte Entwicklung und Produktion von hochwertigen nachhaltigen Chemie- und Kunststoffprodukten, die Ressourcen schonen und die energetische Effizienz von Solarpaneelen, Windparks, Stromtransporten und Mobilitätslösungen etc. steigern."

Der Kurs der OMV bleibt somit mehr als riskant. (Günther Strobl, 5.6.2024)