Bus mit EU-Wahlkampfslogan der Fratelli d'Italia.
EU-Wahlkampfslogan der Fratelli d'Italia: "Mit Giorgia verändert Italien Europa."
EPA/MASSIMO PERCOSSI

Eine der Stärken Melonis besteht darin, dass sie ein Flair für griffige, volkstümliche Sprüche hat. "Schreibt einfach Giorgia auf den Wahlzettel", rief sie vor kurzem bei einer Wahlveranstaltung an der Adria ihren Anhängern zu. Das genüge und sei auch erlaubt. Die italienische Ministerpräsidentin und Chefin der postfaschistischen Fratelli d'Italia gibt sich volksnah und tritt in allen Wahlkreisen als Spitzenkandidatin an – obwohl sie nicht im Traum daran denkt, ins Europaparlament einzuziehen. Sehr respektvoll gegenüber den Wählerinnen und Wählern ist das nicht, aber così fan tutti in Italien: Auch Oppositionschefin Elly Schlein kandidiert als Listenführerin, Außenminister Antonio Tajani, Chef der Forza Italia, ebenso. Die Scheinkandidaturen der Aushängeschilder sollen einfach ein paar Stimmen mehr für die Partei bringen.

Auch wenn Meloni nicht gedenkt, von Rom nach Straßburg umzuziehen: Umkrempeln will sie die europäischen Machtverhältnisse sehr wohl. Das Ziel hat Melonis Infrastrukturminister Matteo Salvini schon vor einigen Monaten formuliert: "Wir wollen das italienische Modell nach Europa exportieren und die Sozialisten nach Hause schicken", erklärte der Lega-Chef. Mit anderen Worten: Die auf EU-Ebene heute tonangebende Koalition aus der christlich-konservativen EVP, Liberalen und den Sozialdemokraten soll durch eine Koalition abgelöst werden, deren Komponenten alle rechts der Mitte angesiedelt sind wie in Rom, wo die Fratelli d'Italia, die Lega und die Forza Italia die Regierung bilden.

Erstarken der Rechtsparteien

Angesichts der Stimmungslage und der Umfragen, die bei der Europawahl mehr oder weniger auf dem ganzen Kontinent ein Erstarken der Rechtsparteien erwarten lassen, erscheint ein solches Szenario zumindest auf dem Papier nicht unmöglich. Nicht zuletzt dank Melonis Fratelli, die bei der Wahl wohl stark zulegen werden, könnte die europäische Fraktion der Konservativen und Reformer (EKR), deren Präsidentin Meloni schon heute ist, im neuen EU-Parlament drittstärkste Kraft werden.

Was der Export des "italienischen Modells" für die europäische Politik bedeuten würde, lässt sich leicht vorstellen: noch mehr Abschottung, noch weniger Integration, noch weniger Genderpolitik und, soweit überhaupt noch möglich, noch weniger Klimaschutz und Umweltpolitik. Allerdings: Zumindest bisher hat die EVP jegliche Kooperation mit der reaktionären ID ausgeschlossen – es gibt eine ähnliche "Brandmauer", wie sie die deutsche CDU/CSU gegenüber der AfD hochgezogen hat. Auch der italienische Außenminister Tajani, dessen Forza Italia der EVP angehört, betont bei jeder Gelegenheit, dass eine Koalition mit den Rechtsaußen der ID keine Option sei: Mit Salvini und seiner Lega könne man in Rom zwar regieren, "aber Le Pen ist eine ganz andere Währung", betont Tajani.

Giorgia Meloni, die weniger weit rechts steht als der Hardliner Salvini, denkt letztlich ähnlich wie ihr Außenminister, darf es aber dem Koalitionsfrieden in Rom zuliebe nicht laut sagen. Sie kann mit der populistischen Anti-Brüssel-Rhetorik und der Putin-Bewunderung ihres Vizepremiers Salvini nichts anfangen; in den ersten eineinhalb Jahren ihrer Amtszeit als Ministerpräsidentin hat sie sich in Brüssel erstaunlich konstruktiv gezeigt, und auch an der Unterstützung der Ukraine hat sie nie einen Zweifel aufkommen lassen. Melonis strategisches Ziel besteht darin, auch auf EU-Ebene mit der EKR im Konzert der Großen aufgenommen zu werden, wie es ihr vor eineinhalb Jahren mit ihren Fratelli in Italien gelungen ist. Sie will auch in Brüssel die politische Schmuddelecke verlassen – mit wem sie sich dann an den Tisch der Mächtigen setzen wird, ist ihr weniger wichtig.

Gefahr von innen

Sie weiß genau, dass einzig die EU-Mitgliedschaft garantieren kann, dass Italien seinen enormen Schuldenberg von fast drei Billionen Euro weiterhin zu halbwegs tragbaren Zinsen finanzieren kann. In den eineinhalb Jahren an der Macht hat die 47-jährige Römerin außerdem gelernt, dass Italien auch in der Migrationspolitik nicht auf die Unterstützung der EU verzichten kann.

Meloni muss derzeit nur sich selbst fürchten. Mit ihren zum Teil reaktionären gesellschaftspolitischen Positionen und ihren revanchistischen Ausfällen gegen alles, was nach linker Ideologie riecht, bedient sie zwar die Ressentiments eines Teils ihrer Wählerinnen und Wähler, aber für den zahlenmäßig sehr viel größeren Rest der italienischen Gesellschaft erscheint sie dadurch als das Gegenteil dessen, was sie eigentlich sein möchte: eine moderne, zukunftsorientierte Frau und Politikerin. Schon ziehen die ersten dunklen Wolken am Horizont auf: Melonis Staatsreform, die auf eine Stärkung der Position des Regierungschefs abzielt, erwächst nicht nur in der Politik, sondern auch in der Zivilgesellschaft immer größerer Widerstand. Eine ähnliche Reform hatte schon der sozialdemokratische Ex-Premier Matteo Renzi im Jahr 2016 versucht. Das Resultat: Renzi scheiterte in der Volksabstimmung – und musste zurücktreten. (Dominik Straub aus Rom, 6.6.2024)