Wer sind die extrem rechten Parteien in der EU, wie wollen sie Europa verändern, und wie würde das den Alltag der Menschen beeinflussen? Diese Fragen beantworteten Georg Gläser von der Uni Köln und Amélie-Jacqueline Apke von der Uni Salzburg am Mittwoch in einem Mediengespräch des Wissenschaftsnetzwerks Diskurs.

Ideologisch sitzen rechts von der Europäischen Volkspartei (EVP), der größten Fraktion innerhalb des EU-Parlaments, der die ÖVP und die CDU angehören, zwei Fraktionen, die "als Sammelbecken für Nationalkonservative bis hin zu offenen Faschisten" dienen, wie Gläser sagt: die ECR (Europäische Konservative und Reformisten) und die ID (Identität und Demokratie). Wie rechts einige dieser Parteien sind, lässt sich etwa auch an deren parlamentarischen Mitarbeitern zu Hause festmachen: Die AfD beschäftige etwa rund 100 Rechtsextremisten, teils Identitäre, teils Ex-NPD-Kader, im Bundestag, so Gläser. Bei der FPÖ findet man ebenso Identitäre als Mitarbeiter in den FPÖ-Parlamentsbüros.

Gruppenfoto zeigt (v.li.) Geert Wilders, Frauke Petry, Harald Vilimsky, Marine Le Pen und Matteo Salvini beim Kongress
Beim Kongress Freiheit für Europa trafen 2017 Geert Wilders, Frauke Petry, Harald Vilimsky, Marine Le Pen und Matteo Salvini zusammen.
Christian Thiel

Bruchlinien zwischen den Fraktionen ergeben sich aktuell besonders durch den Umgang mit Russland, erklärt Gläser. Entscheidend sei, dass die ID-Fraktion sehr Kreml-treu eingestellt sei – anders als die ECR-Fraktion, die klar für die Unterstützung der angegriffenen Ukraine sei. Deutlich werde dies durch Giorgia Melonis postfaschistische Fratelli d'Italia, die sich im Gegensatz zu Matteo Salvinis Lega zur Ukraine-Hilfe bekannte.

Tiefe Wunden

Es gibt aber auch erinnerungspolitische Differenzen. Die polnische PiS-Partei sehe das als revisionistisch empfundene Geschichtsbild der AfD schon lange mit großer Sorge, so Gläser. Dass AfD-Funktionäre sich nicht immer ausreichend von NS-Gedankengut abgrenzen, erschwert die Beziehungen zwischen den beiden Parteien schon seit längerem. Zu tief sind in Polen die Wunden des deutsch-sowjetischen Angriffs 1939. Geschichtspolitische Trennlinien gibt es aber auch in der ID: Den Ausschluss der AfD aus der Fraktion Ende Mai begründete diese offiziell mit SS-verharmlosenden Äußerungen des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah.

Ungarns Viktor Orbán und Italiens Giorgia Meloni umarmen sich am Rande des Europäischen Rates.
Die Beziehung zu Russland spaltet Europas Rechte.
AP/Geert Vanden Wijngaert

Was könnte ein Erstarken der äußeren rechten Fraktionen für Europas Zukunft bringen? Da sieht Gläser unzählige Politikfelder der EU auf der Kippe – nicht aber den Binnenmarkt. Denn es gebe beträchtliche neoliberale Strömungen in den rechten Fraktionen. Unklarer könnte aber die Zukunft des Euro werden, meint Gläser.

Worauf sich die Gesellschaft gefasst machen müsste, sollten die Rechts-außen-Fraktionen mehr Macht erhalten, ist eine Intensivierung des sogenannten Kulturkampfes. Das heißt konkret ein Zurückdrängen progressiver Entwicklungen in vielen Lebensbereichen. Ein solcher Kampf könnte etwa über Förderprogramme ausgefochten werden. Zuwendungen für "Unternehmen, Agrarwirtschaft, Familie und Kinderreichtum" werden begrüßt, wenn diese zur Ideologie passen, so Gläser. Gleichgeschlechtliche Paare hingegen würden Rechte verlieren.

Gegenliebe der EVP

Auch Sprachenvielfalt, Menschenrechte, Minderheitenrechte, Gewaltschutz und Abtreibungsrechte, die Frauen zugutekommen, wären wohl unter Beschuss. Ganz konkret sieht Politikwissenschafter Gläser ein Ende des Forschungsprogramms Horizon Europe sowie alle Maßnahmen, die Nachhaltigkeit, Kunst, eine inklusive Gesellschaft bzw. die Stärkung der Zivilgesellschaft betreffen, in Gefahr, auch eine klimafreundliche Umwelt- und Mobilitätspolitik. Bei Letzterem stoßen die Fraktionen auch bei einigen in der EVP auf Gegenliebe, erklärt Apke. Zentrale Aspekte des Green Deal von Kommissionschefin Ursula von der Leyen, etwa das Aus für Verbrennungsmotoren bis 2035, würden von ihnen infrage gestellt, so die Politologin. Letztlich könne die EVP aber darüber entscheiden, wenn sie sich für eine Kooperation mit der ECR entscheide, so Apke.

Die Abschaffung grenzüberschreitender Programme wie Erasmus oder Interrail werde zwar niemand offen in sein Programm schreiben, deren Ende könnte aber eine logische Konsequenz sein, glaubt Gläser. Denn durchlässige Grenzen sind nicht nur an den Außenlinien der "Festung Europa" keine Option für radikale Rechte. (Colette M. Schmidt, Noah Westermayer 5.6.2024)