Dani Carvajal
Dani Carvajal kommt nach einem Eckball vor Niclas Füllkrug zum Kopfball und zum vorentscheidenden 1:0 für Real Madrid im Finale der Champions League gegen Dortmund – wie einstudiert.
REUTERS/Carl Recine

Wien – Der sechste Eckball bescherte quasi Real Madrid den Champions-League-Titel. Fünf der Corner hatten das gleiche Ziel gehabt: Dani Carvajal lief aus dem Zentrum zum kurzen Eck des Fünfmeterraums, Toni Kroos versuchte ihm den Ball auf den Kopf zu servieren. In der 74. Minute klappte es: Carvajal schüttelte Manndecker Ian Maatsen ab, kam vor dem raumdeckenden Niclas Füllkrug an den Ball und köpfelte das 1:0. Genau wie einstudiert. Das 2:0 durch Vinicius Júnior zum Endstand war nur noch Formsache. Man muss aber nicht auf die große europäische Bühne schauen, um die Wichtigkeit von Standards zu erkennen: Sturm Graz gelang das erlösende 1:0 im Meisterschaftsfinale gegen Austria Klagenfurt (Endstand: 2:0) aus einem Eckball, auch die zwei Blackies-Tore zum 2:1 über Rapid im Cupfinale entstanden aus Standardsituationen.

Ted Knutson gilt er als einer der weltweit führenden Köpfe im Bereich der Standardsituationen. Der US-Amerikaner war Chef der Spieleranalyse für die Datenpioniere Brentford und Midtjylland, machte aus seinem Blog Statsbomb ein erfolgreiches Sportdatenanalyse-Unternehmen und berät mehrere Spitzenklubs.

Ted Knutson
Ted Knutson lehrt das Verhalten bei Standardsituationen.
StatsBomb

STANDARD: Sie haben seit 2019 einige Male einen Coaching-Kurs rund um Standardsituationen angeboten. Ist das eine Marktlücke?

Knutson: In Wahrheit gibt es vielleicht 20 kompetente Standardsituationstrainer auf der Welt und einige, die es werden wollen. Es ist noch immer relativ neu – und wenn man es dann mit Daten verbindet, gibt es noch weniger, die auch diese Seite verstehen. Aber man sieht immer wieder Innovationen.

STANDARD: Wie schnell werden Neuerungen im Fußball kopiert?

Knutson: Meistens unfassbar langsam.

STANDARD: Also kann man sich hier immer noch einen Vorteil erarbeiten?

Knutson: Einen massiven – obwohl ich seit 2016 öffentlich darüber schreibe.

STANDARD: Oft denkt man nur über das Toreschießen nach, aber die Defensive ist ja genauso wichtig. Österreichs ältere TV-Experten kritisieren es beispielsweise gerne, wenn eine verteidigende Mannschaft bei Eckbällen die Stangen nicht besetzt.

Knutson: Man muss identifizieren, was der Gegner wahrscheinlich tun wird, um sich darauf einzustellen. Man muss Kompromisse eingehen – einer davon sind die Spieler an den Stangen. Wir haben Beweise, dass sie nicht viel bringen. Und wenn du mehr Spieler im eigenen Strafraum hast, fehlen sie dir vorne im Konter.

STANDARD: Also würden Sie nur jemanden an die Stange stellen, wenn es die letzte Aktion des Spiels ist und Sie selbst kein Tor mehr brauchen?

Knutson: Sogar dann hätte ich lieber, dass sie aktiv etwas machen, statt passiv dazustehen. Manche Teams sind besonders gut mit Bällen auf die zweite Stange, da würde ich vielleicht einen extra Verteidiger hinstellen, der sich dann gegebenenfalls wegbewegt.

Bei Sturms meisterschaftsentscheidendem 1:0 von Gregory Wüthrich war Klagenfurts Christopher Wernitznig ohne Gegenspieler an der ersten Stange positioniert, das Tor konnte er auf der Linie nicht verhindern.
APA/ERWIN SCHERIAU

STANDARD: Worauf sollen TV-Zuschauer bei Standards achten?

Knutson: Was sich im letzten Jahrzehnt stark geändert hat, ist das Verteidigen. Früher wurde viel mehr mit ausschließlicher Manndeckung gearbeitet – wir haben das geliebt, weil wir diesen Teams immer Probleme bereiten konnten.

STANDARD: Und beim angreifenden Team?

Knutson: Da ist das Treten der Standardsituationen sehr wichtig, aber das kann man als Coach am wenigsten beeinflussen. Man hat Spieler, die das gut können, oder nicht. Manchmal hört man Kommentatoren sagen, dass die Stürmer immer im Strafraum sein müssen. Aber für eines der besten Manchester-United-Teams traten Wayne Rooney und Robin van Persie die Eckbälle – weil sie den Ball dorthin brachten, wo er hinmusste. Teams, die bei Standards gut sind, machen manchmal seltsam wirkende Sachen, zum Beispiel drängen sie sich alle auf einen winzigen Fleck. Wir empfehlen das, weil die Verteidiger dann schwieriger ihre Gegenspieler festhalten können. Wenn man sieht, dass sich das angreifende Team irgendwie seltsam aufreiht, dann haben sie wahrscheinlich einen Plan.

STANDARD: Manchmal hat man auch bei großen Teams den Eindruck, dass sie Standards nicht besonders gut ausführen.

Knutson: Ich möchte keine Namen nennen, aber ich war vor kurzem bei einem Premier-League-Spiel, in dem mir die Set-ups von beiden Teams überhaupt nicht gefallen haben. Dabei braucht es nur zehn, 15 Minuten pro Trainingssession, um gut darin zu werden. Mit dieser Zeit kann man sich in einem Bereich stark verbessern, der für ein Drittel der Torchancen verantwortlich ist.

STANDARD: Hat es in den vergangenen zehn Jahren irgendwelche großen Entwicklungen in dem Bereich gegeben?

Knutson: Allein schon, dass mehr Teams das richtig trainieren. Früher gab es manchmal 15 Minuten am Ende des Freitagstrainings, das war's. Jetzt spielt es vor allem in K.-o.-Turnieren eine so große Rolle, dass es Trainer dafür gibt. Früher gab es weltweit genau zwei. Aber Fußball ist so langsam, dass nur etwa die Hälfte der Teams einen spezialisierten Coach dafür haben.

STANDARD: Wer waren diese zwei?

Knutson: Gianni Vio, der mit Italien die EM gewonnen hat. Und Tony Pulis war auch ein Pionier. Es gibt jetzt einen Trainer-Stammbaum, der von Midtjylland ausgeht: Brian Priske, der mit Sparta Prag heuer das Double gewann und schon voriges Jahr die besten Standardwerte Europas hatte. Und Mads Buttgereit ist auch großartig. Er war früher beim dänischen Nationalteam, jetzt ist er beim deutschen. Auch Nicolas Jover ist sehr gut, er war früher bei Brentford und ist jetzt bei Arsenal.

Why Brentford are the best set-piece takers in football
Tifo Football

STANDARD: Sie haben vor Italiens Europameistertitel 2021 mit dem Team gearbeitet. Wie läuft das?

Knutson: Auch mit Jamaikas Frauenteam, das bei der WM in der K.-o.-Phase war, und mit Marokko bei der Männer-WM. Sie verwenden unsere Tools für ihren Analyseprozess, und die Teams, die das wollen, werden von uns beraten, wo sie sich am meisten verbessern können. Manche Nationalteams verwenden unsere Daten auch, um einen Überblick über ihre Spieler zu haben.

STANDARD: Früher waren es immer die Underdogs, die ihre Tore aus Standardsituationen schießen mussten. Gibt es deshalb ein Stigma?

Knutson: Absolut. Ich habe mit Freunden gesprochen, die früher bei Arsenal waren: Was wäre, wenn sie jemanden für weite Einwürfe hätten? Sie sagten, für Arsenal hätte sich das wie Verrat am Fußball angefühlt.

STANDARD: Gibt es dieses Denken noch?

Knutson: Ich erlebe es nicht mehr, aber innerlich denken sicher noch viele Trainer so und glauben, dass sie da keine Hilfe brauchen.

STANDARD: Haben Sie eine Lieblings-Standardvariante?

Knutson: Ich liebe den "Zanetti", mit dem Argentinien 1998 gegen England traf. Javier Zanetti stand in der Mauer, schlich sich dahinter in den freien Raum, wurde angespielt und schoss ein Tor. Das Konzept wurde immer wieder wiederholt.

Zanetti – against England 1998
EveryFourthYear

STANDARD: Bei welcher Standardsituation ist besonders viel Luft nach oben?

Knutson: Einwürfe sind der häufigste Restart im Match. Wenn man da einen 20-prozentigen Vorteil hat, ist das sehr viel. Wenn alle Einwürfe so wie wir sehen würden, müssten die Regeln wohl geändert werden. Es gibt bei Einwürfen ja kein Abseits. Würden sich Teams mehr auf das fokussieren, wäre das sehr lohnend.

STANDARD: Sollte jede Mannschaft jemanden haben, der weit einwerfen kann?

Knutson: Es wird beliebter, aber wenige Teams verstehen wirklich, was sie machen. Bei Midtjylland haben wir sie "Hand-Eckbälle" genannt und hatten auf beiden Seiten mehrere Spieler, die weit einwerfen konnten. Die Routinen sind etwas anders als bei Eckbällen, aber der Vorteil beim Einwurf ist, dass der Werfer dabei nach vorne schauen kann. Du kannst sehen, was passiert, und bist mehr wie ein Football-Quarterback.

STANDARD: Was ist mit Elfmetern? Manche Trainer lassen das immer noch nicht trainieren.

Knutson: Man kann die lernen. Einerseits ist es ein mentaler Prozess, andererseits die Frage, wo der Ball hinsoll. Man sollte auch wissen, wer die besten Schützen sind, das gehört alles zum Job.

STANDARD: Was würden Sie beispielsweise Teams in Österreichs Bundesliga raten, die sich keinen eigenen Standard-Coach leisten können? Wo können die sich billig einen Vorteil holen?

Knutson: Einfach trainieren. Schauen, was die guten Teams machen, und dann zehn Minuten pro Training Eckbälle trainieren. Dann hat man irgendwann ein Set von vier Cornern, die man jederzeit machen kann. Daraus werden dann acht oder zwölf, damit haben wir in vielen Ligen Erfolg gehabt. Es ist das billigste Extrator, das du bekommst.

STANDARD: Wer wird bei der EM die besten Standardsituationen haben?

Knutson: Ich wäre überrascht, wenn es nicht Deutschland wäre. England ist normalerweise auch gut, aber sie variieren für mich nicht genug. Sie haben sehr gute Schützen – wenn sie in ihren Varianten weniger vorhersehbar werden, wären sie gefährlich. (Martin Schauhuber, 11.6.2024)