Am Mythos und Faszinosum der Mahler-Frauen kommt man nicht vorbei: Anna Mahler, Tochter von Alma Mahler.
Lillian Birnbaum

Zwei mächtige Atlanten flankieren den Eingang des Hauses in der Wiener Operngasse. In den 1930er-Jahren meißelte Anna Mahler hier tagein, tagaus in ihrem ebenerdigen Wohnatelier an ihren Skulpturen. Bereits im Entree schlug einem der Geruch von Steinstaub entgegen. Wenn es draußen regnete, prasselten die Tropfen auf das Dach des Atelierraumes, formten sich zu kleinen Rinnsalen und flossen über das Glas herab. Immer wieder schneite Besuch herein. Wenn Elias Canetti, Hermann Broch, Frank Thiess oder andere eintrafen, legte sie den Meißel nur kurz beiseite, die meiste Zeit arbeitete sie während der nun folgenden Unterhaltungen rauchend weiter. Zu diesem Zeitpunkt hatte Anna Mahler zwei Ehen hinter sich, war schön, umschwärmt und vielbegehrt. Die Operngasse avancierte zur bohemehaften Gegenwelt anderer, machtbewusster gesellschaftlicher Brennpunkte. Bei Anna traf sich – im Unterschied zu Alma Mahlers Reigen im Villentempel auf der Hohen Warte – die künstlerische Avantgarde.

Manchmal und meist spät am Abend kam ein Gast, der den Weg vom Ballhausplatz ungesehen, vielleicht mit tief ins Gesicht gezogenem Hut zurücklegte. Der austrofaschistische Kanzler war tiefkatholisch, verheiratet und "fassungslos in Anni verliebt". Als seine Frau Herma bei einem Autounfall starb, sagte sich Kurt Schuschnigg umgehend von seiner Geliebten los. Einige Jahre vorher hatte sich Anna endgültig von Paul Zsolnay getrennt. Die Verbindung mit dem Verleger war eine Katastrophe, würde sie später über diese – ihre dritte – Ehe erzählen. Zurück ließ sie ihr kleines Mädchen, dem sie den Namen ihrer Mutter gegeben hatte, Alma.

An die erste Stelle gerückt

Wie ich auf Anna Mahler kam, erinnere ich nicht mehr. Der Name war plötzlich einfach da. Als ich mit den Recherchen begann, wusste ich wenig über die Tochter von Gustav und Alma Mahler. Ob es wirklich eine gute Idee ist, über das Leben einer Frau zu schreiben, in deren Zentrum Familienthemen und eine gewaltige Mutterbeziehung stehen, überlegte ich. Wenige Wochen zuvor war meine Mutter gestorben. Nach dem Gespräch mit Elisabeth Stein, meiner Verlegerin, spuckt mir zu Hause Vimeo einen Kurzfilm aus dem Jahr 1954 aus. Eine schöne fünfzigjährige Frau in Drillichhose, einem karierten Hemd, mit tizianrot gefärbtem Haar, sehnigen Armen und um die Handgelenke gewickelten Lederbändern schlägt in den Stein. Dazu tönt meditativ Johann Sebastian Bachs Fuge, von Anna selbst am Klavier eingespielt. In A Stone Figure, so heißt der Film, wirft mich die Wucht dieser Frau förmlich um. Plötzlich steigen Bilder hoch. Anna war die zweite Tochter von Gustav und Alma. Gucki nannten sie ihre Eltern, ihrer großen veilchenblauen Augen wegen. Gustav Mahlers Lieblingskind war die ältere Schwester Maria. Als diese im Alter von fünf Jahren an Diphtherie starb, rückte Anna naturgegeben an die erste Stelle.

Im Jahr 1911, dem Sterbejahr ihres Vaters, war Anna noch ein Kind. Ihre Mutter zog sie in der Trauer eng an sich. Zeitlebens würde die von gegenseitiger Anziehung und Abstoßung geprägte Beziehung in Annas Leben im Zentrum bleiben. "Mami verstand es, Sklaven zu machen", meinte die Tochter in späteren Interviews, und wenn sie behauptete, sie selbst wäre schon früh als "kleiner Sklave entschlüpft", dann war dies wohl nur die halbe Wahrheit. Eine "Sauangst" hatte sie vor ihr. Sie flüchtete früh aus dem Haus.

Ihre erste Ehe ging die sechzehnjährige Anna mit Rupert, dem Sohn der Malerin Broncia Koller, ein. Die Verbindung scheiterte nach wenigen Monaten. Anna, inzwischen in Berlin, begann sich nunmehr auf einen eigenen künstlerischen Weg, vorerst die Malerei, zu konzentrieren.

Frisch verliebt

In der Berliner Künstlerszene begegnete sie dem Komponisten Ernst Krenek und verliebte sich neu. Beide verband die Musik, sie fertigte mit ihrer hohen musikalischen Begabung die Klavierauszüge seiner Symphonien. Anna spielte selbst Klavier, Geige und Cello. Die beiden lebten ein Künstlerleben mit unvergleichlichen Begegnungen. Sie besuchten Rainer Maria Rilke im Wallis, der ihnen in seinem gotischen Wohnturm aus den Duineser Elegien vortrug, die er 1921 "in einem namenlosen Sturm" vollendet hatte. Mit ihrer eigenen Kunst kam Anna neben Krenek nicht so richtig voran. Nachdem er sie mit der Geigerin Alma Moodie betrogen hatte, ließ sie alles hinter sich und flüchtete nach Rom. Dort tauchte sie in Giorgio de Chiricos rätselhafte, antikische Figuren der Pittura metafisica ein. Die Saat seines Unterrichts sollte später in ihren Skulpturen aufgehen.

Ich stehe im Garten der einstigen Casa Mahler, dem Palazzetto, den Annas Mutter in den 1920er-Jahren in Venedig gekauft hatte. Anna liebte das Haus, sie nutzte es als Fluchtpunkt. Am wohlsten fühlte sie sich dort, wenn sie alleine war. Jetzt ist die Casa Mahler ein kleines Hotel, in dem ich die Atmosphäre nicht erfassen kann. Vielleicht sind meine Erinnerungen an Italien zu stark? Eine gewisse Identifikation ist beim Schreiben einer Biografie unvermeidlich, mitunter nützlich, denn sie dient dem Verständnis und der Erzählkunst. Zugleich muss die Emotion jedoch im Zaum gehalten werden.

Anna kehrte anschließend wieder nach Wien zurück. Nach der Hölle mit Paul Zsolnay fand sie in einer Art von Katharsis ihre Kunstform. Die Arbeit am Stein zählte zum Härtesten, was es in künstlerischer Richtung gab, und der Umgang mit Meißel und Hammer war vorwiegend männlichen Künstlern vorbehalten. Auch diese radikale Geste der Freiheit, die sich Anna genommen hatte, erhöhte ihren Nimbus als (künstlerische) Lichtgestalt. Fritz Wotruba erteilte Anna Privatunterricht. Später betonte sie, wie sehr er sie "encouragierte". Annas Figuren waren weiblich und monumental. Sie wurde nie abstrakt, blieb immer in der Figur. Ihren künstlerischen Urgrund bildete die Musik.

Flucht aus Wien

Am frühen Morgen des 13. März 1938 packte Anna in ihrem Atelier einen Stapel Fotos ihrer Arbeiten und das Allernötigste in ein Handköfferchen. Der Flucht aus Wien und einer Irrfahrt durch Osteuropa folgten Jahre des Exils in London, in denen es ihr trotz Widrigkeiten gelang, eine Existenz als Künstlerin zu etablieren. Nachts erlebte sie die Luftangriffe, und tagsüber meißelte sie an ihren Skulpturen. Ein weiteres Sujet von Anna waren Porträtköpfe. In ihnen lag eine beträchtliche Begabung, und sie wurden zu ihrem Markenzeichen. Einer ihrer Freunde meinte einmal, Annas Köpfe besäßen einen Blick. Sie porträtierte Künstler und Musiker, darunter in Wien Alban Berg, Bruno Walter, Kurt Schuschnigg und später im Exil neben anderen Arnold Schönberg.

Im Jahr 1950 begann der letzte Auftakt der Beziehung zu ihrer Mutter. Sie trennte sich von ihrem vierten Ehemann, Anatole Fistoulari, verließ mit ihrer kleinen Tochter Marina London und zog nach Los Angeles, wo Alma lebte. In den USA begann ihre künstlerisch produktivste Zeit. Das Haus, in dem sie wohnte, glich einer "verfallenden Dschungelhütte", erinnerte sich einer ihrer Freunde. Ich betrachte es auf Fotografien, es steht heute nicht mehr. Das riesige asphaltierte Freiluftatelier, einst ihr "Zaubergarten", in dem sie eine Skulptur nach der anderen meißelte, ist nicht mehr zu erkennen.

Sehnsucht nach Europa

Nach dem Krieg regte sich bei Anna Sehnsucht nach Europa. Sie wählte das mittelalterliche Umbrien und erwarb ein Haus in Spoleto. Im Ristorante Tric Trac zischt und faucht die Gaggia-Kaffeemaschine. Ein Fingerhut voll Flüssigkeit rinnt in die Espressotasse. Im Tric Trac hat Anna damals ihren "caffè" getrunken. Es muss im Jahr 1982 gewesen sein, als ich selbst öfter hier am "banco" gestanden bin. Vielleicht neben ihr? Ich lebte als junge Erwachsene mehrere Monate in ihrer unmittelbaren Nähe. Ich höre die Glocken der mittelalterlichen Kirchen, und mir läuft ein Schauer über den Rücken. "Der Klang war geheimnisvoll mächtig", schrieb einst Annas Vater, der am Ende des letzten Satzes seiner "Auferstehungssymphonie" Töne von Kirchenglocken als archaisches Klangspiel einsetzte. Hier in Spoleto versuchte sich Anna wieder am Porträt des Vaters, das sie bereits vor Jahrzehnten überlebensgroß gestaltet und zerstört hatte. Diesmal verriss sie Gustav Mahlers Züge und formte die Oberfläche seines Kopfes irritierend expressiv und ausdrucksstark.

Dann taucht Videomaterial auf. Ein sensationeller Fund. Anna Mahler in vielen Stunden Gespräch mit Peter Stephan Jungk. Anna mit Pillbox-Hut im Garten unter der windschiefen Laube ihres Hauses in Spoleto. Neben ihr ein Glas Rotwein, von dem sie immer wieder einen Schluck nimmt. Die Züge ihres Gesichtes sind durchfurcht und strahlen in einer seltenen Art von – "innerer" kommt mir den Sinn – Schönheit. Ihr "Augenspiel", mit dem sie Elias Canetti halb um den Verstand brachte, fasziniert. Die Aufzeichnungen bringen sie mir überwältigend nahe.

Mythos der Mahler-Frauen

Am Mythos und Faszinosum der Mahler-Frauen komme ich anscheinend nicht vorbei. Die Verbindungen zu ihren Ehemännern und Liebhabern waren schwierig und verquer. Sie betrogen, bekamen Kinder von anderen Männern, logen ohne Rücksicht. Stets wurden Töchter geboren. Die problematischen Mutterbeziehungen im Hause Mahler ziehen sich über mehrere Generationen. Manches mochte von ungelebtem Leben und unterdrücktem künstlerischem Talent rühren.

Annas Geschichte war letztendlich eine Geschichte der Befreiung. Während ihre dem Kosmos des Fin de Siècle verhaftete Mutter gegen Ende des Lebens ihre Daseinsberechtigung als Gefährtin männlicher Genies, in eigenen Worten, "als Steigbügelhalterin der Ritter des Lichts", erklärte, hatte sich Anna schon früh für einen eigenen künstlerischen Weg entschieden. Trotz schwieriger Beziehungskonstellationen lebte sie ein selbstbestimmtes Leben. Mit über 80 Jahren trennte sich Anna von ihrem fünften Ehemann Al Joseph. Sie wolle frei sein für die Zukunft, erklärte sie ihm. Hochbetagt unternahm sie alleine noch Reisen nach China. Anna Mahler starb 1988 in London. Ihre Arbeiten warten darauf, entdeckt zu werden. (Gabriele Reiterer, 8.6.2024)