Autorin Helena Adler verstarb im Jänner dieses Jahres mit erst 40 Jahren.
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Was ist "Miserere" für ein Wort? Eine Steigerungsstufe von Misere, auch wenn Nomen nicht steigerbar sind? Zuzutrauen war das Helena Adler allemal, der sprachverliebten, diesen Jänner mit 40 Jahren viel zu früh verstorbenen Salzburger Autorin. Unter dem Titel Miserere sind nun drei ihrer letzten Texte posthum zu einem schmalen Bändchen von nicht ganz 80 Seiten zusammengefasst worden.

Da "nimmt" etwa ein Gebirge "Anlauf", wo es ansteigt, und dort wohnt der Handwerker Josef fern der Menschen. Man kann es ihm nicht verdenken, denn in seiner Zweitfunktion als "Hochzeitslader" war er gestern beim Bürgermeister Joch, der seiner zukünftigen Schwiegertochter bei der Gelegenheit "auf den Hintern geklatscht" hat. Misogynie am Land war stets ein großes Thema in Adlers Texten. Patriarchat ebenso, und deshalb widerspricht man dem Bürgermeister als Sohn und Bräutigam selbst in so einem Fall nicht. Gleich wie der Gemeinderat, denn andere Frauen werden ja überhaupt "von ihren Brudercousins und Cousinsbrüdern gerudelt".

Falscher Lektüreschlüssel

Vom "Rohbau" zur "Rohkost" führt Adler die Sprache und zum "Korruptionsschweinebraten", Augen sind "anhänglich", wenn sie sich an etwas heften, ein Haus ist "die ausbetonierte Gebärmutter der Menschen" und die Männer des Orts Unterjoch werden natürlich als "Unterjocher" angesprochen. So weit, so typisch Adler (Die Infantin trägt den Scheitel links wurde 2020 zum Erfolgsdebüt, 2022 legte sie mit Fretten nach).

Neuerdings wird Josef aber schwarz vor den Augen, hat er Gleichgewichtsprobleme und Sprachausfälle. Da wird es aber unheimlich. Man meint nun natürlich, Adler hätte in die Figur ihre eigene Krebserkrankung hineingelegt. Und man denkt noch einmal nach und erkennt, "Miserere" ist keine Worterfindung Adlers, sondern stammt aus dem Agnus Dei und bedeutet aus dem Lateinischen übersetzt "Erbarme dich". Und man glaubt jetzt den Schlüssel zu den drei Texten des Bandes in der Hand zu halten: Zeugnisse der Autorin, wie sie mit ihrem eigenen Schicksal umgeht, trotz ihm schreibt, beherzt in die Sprache greift wie eh, humanistisch engagiert wie je.

"Lebensbehinderer"

Immerhin bewegen sich die folgenden Beiträge immer enigmatischer werdend noch näher auf den Tod zu: Unter die Erde heißt der zweite, der dritte Miserere melancholia ist ein Kampf gegen eine Art Monster in Ich-Form. Ausgefochten wird er in einem langen Dialog, in dem es Gedanke zum Mitnehmen und Merksätze nur so hagelt: "Das Lachen wird euch vergehen, drohte ich ihm, so wie ihr selbst vergehen werdet", "Jeder Morgen ein Grauen, in dem es mir dämmert, dass es in mir dämmert", "Dauer ist kein Kriterium für Intensität und Nähe". "Leichenfresser! Und Lebensbehinderer" schimpft die Ich-Figur das düstere Gegenüber, das mit "Lebensbehinderte!“ zurück keift und man glaubt, Zeuge zu sein, wie Adler versucht, zu "erzählen, bevor mir die Luft ausgeht", wie die Figur kundtut.

Dann die Überraschung: Alle diese Texte sind zwischen 2022 und Frühjahr 2023 entstanden, klärt das Nachwort auf, teils in Vorausschau auf Adlers Teilnahme beim Bachmannpreis, die sie dann absagen musste, als erst im Juni ihr Gehirntumor diagnostiziert wurde. Alle drei Texte waren da bereits fertig. Was man beim Lesen für ein Apokalypse- oder Todesmonster hielt, ist ein "Schwermutsdämon", eine Personifizierung der "Todsünde der Trägheit". Nun sind es kräftige, erschütternde letzte Worte, ein Wortgefecht ums Ganze. In der Sprache hat die Autorin gesiegt. (Michael Wurmitzer, 18.6.2024)