Ein Schild mit der Aufschrift
Die Hitzewellen der letzten Jahre überzeugen nicht alle.
IMAGO/Alexander Gonschior

Als Donald Trumps Twitter-Account im Jahr 2021 nach dem Sturm aufs Kapitol gesperrt wurde, gab es viel Zustimmung. Doch von unerwarteter Seite kamen auch Bedenken. Deutschlands damalige Bundeskanzlerin Merkel kritisierte den Schritt: "Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist von elementarer Bedeutung", ließ sie über ihren Sprecher ausrichten.

Dass es zahlreiche Versuche des Verbreitens von Lügen und Propaganda im Internet gibt, wird von kaum jemandem ernstlich geleugnet. Die Frage, wie über Lüge oder Wahrheit entscheiden werden soll und was gegen Falschinformationen getan werden kann, ist aber zunehmend umstritten

Eine Gruppe von Forschenden im Bereich der Forschung zu Falschinformationen um Ullrich Ecker von der University of Western Australia warnt nun in einem Kommentar für das Fachjournal Nature davor, die Gefahren von Falschinformationen zu unterschätzen. "Eine effektive Demokratie ist auf evidenzbasierten Diskurs und informierte Bürger angewiesen", schreibt das Autorenteam. Die Forschenden sehen das Problem nicht in erster Linie im Fehlen von Maßnahmen gegen Falschinformationen. Sie sehen vielmehr drei Schwierigkeiten, die gelöst werden müssten.

Wer entscheidet über Wahrheit?

Einerseits fordern sie, das Problem ernst genug zu nehmen. Weiters müsste anerkannt werden, dass die Einordnung von Informationen in richtig und falsch oft gerechtfertigt ist, und schließlich müsse sichergestellt sein, dass Interventionen gegen Falschinformationen demokratischen Prinzipien folgen. Alle drei dieser Prinzipien seien in den letzten Jahren ausgehöhlt worden, warnen die Forschenden.

Dass der zweite Punkt nicht selbstverständlich ist, mag überraschen. Manche im Internet kursierenden "Theorien", etwa die Ansicht, dass die Erde flach sei, widersprechen so offensichtlich den bekannten wissenschaftlichen Fakten, dass es kein Problem sein sollte, sie als falsch zu erkennen.

Doch das Erkennen der Wahrheit erscheint oft nur subjektiv einfach. Sobald mehrere Personen beteiligt sind, ist wird die Frage nach der objektiven Wahrheit schnell zum Problem. Eine beliebte Strategie, dem beizukommen, besteht darin, jedem und jeder ihre eigene Wahrheit zuzugestehen, doch für viele Fragen des Zusammenlebens oder der Politik ist diese Lösung von geringem praktischem Nutzen.

Manche Fachleute sind tatsächlich der Meinung, dass es generell zu schwierig sei, den Wahrheitsgehalt von Aussagen festzustellen, und die Sorge vor der Verbreitung von Falschinformationen einer Art "Moralpanik" entspringe.

In einer Studie im Fachjournal AMA Journal of Ethics heißt es dazu: "Versuche, den öffentlichen Diskurs einzuschränken, egal wie irregeleitet er erscheinen mag, sind unethisch gegenüber der Grundidee der Wissenschaft, wonach sich mit der Zeit eine immer korrektere Beschreibung der Welt entwickelt, indem Wahrheitsbehauptungen in offenem Wettbewerb stehen." Auch Menschen aus der Wissenschaft hielten sich nicht immer nur an Fakten, sondern ließen sich von vorgefassten Meinungen beeinflussen, steht dort weiters.

Dem widersprechen die Autorinnen und Autoren des Kommentars. Diese Argumentationen hätten nicht die gesamten Daten im Blick, sondern selektiv nur bestimmte Aspekte betrachtet.

Wenige "Superspreader"

Nur weil wissenschaftliche Erkenntnisse nicht den Anspruch stellen können, absolut zu sein, heiße das nicht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse beliebig oder unverlässlich seien oder dass es keine Standards gebe, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu prüfen, heißt es in dem Kommentar. Oft hätten Gegenargumente zum gängigen Konsens offensichtliche Missverständnisse oder politische und ideologische Motivationen als Grundlage.

Die ideologische Komponente unterstreicht auch eine neue Studie im Fachjournal Science, die der Quelle von Falschnachrichten auf X, vormals Twitter, nachging. Ein Großteil der Falschnachrichten werde von einer extrem kleinen Gruppe geteilt. Während der Präsidentschaftswahl in den USA 2020 waren das überwiegend Frauen mittleren Alters, die politisch dem republikanischen Lager zuzurechnen sind und die in Arizona, Florida und Texas wohnten. Ihre Themen waren vorwiegend Abtreibung und Migration. Ihre Zielgruppe waren schlecht ausgebildete Personen mit verhältnismäßig hohem Einkommen.

Eine Demonstration, bei der ein Plakat mit der Aufschrift
Die Idee, die Wissenschaft müsse "befreit" werden, wird hier in Berlin bei einer Demonstration propagiert.
IMAGO/Hohlfeld

Ideologische Vorbelastung wird allerdings auch Wissenschafterinnen und Wissenschaftern immer öfter unterstellt. Es gibt die Idee, die Wissenschaft und den Diskurs "befreien" zu müssen.

Studien, etwa im Fachjournal PNAS, zeigen aber, dass die Öffentlichkeit Interventionen zur Vermeidung von Falschnachrichten überwiegend positiv gegenübersteht. Die Menschen seien in erster Linie daran interessiert, "frei von Manipulation und Irreführung" zu sein. Ein völlig offener Wettstreit von Ideen im Internet scheint keine populäre Idee zu sein. Es gibt ein Bedürfnis nach einem gewissen Schutz vor Lügen.

Das Autorenteam des Kommentars nennt zudem historische Beispiele, wonach das Argument, Falschinformationen ließen sich nicht verlässlich feststellen, jahrzehntelang eine beliebte Strategie von Tabakunternehmen und Energiekonzernen gewesen sei, um Regulationen hinauszuzögern.

Die Frage der demokratischen Prinzipien

Der dritte Punkt unter den Forderungen des Autorenteams betrifft die Regeln, wie der Schutz vor Falschinformationen aussehen könnte. Diese Frage war auch schon im Zusammenhang der Sperre von Donald Trumps Twitter-Account thematisiert worden. Die Frage, wann ein Account zu sperren sei, könne nicht den US-Big-Tech-Unternehmen überlassen werden. Es müsse ein demokratisch legitimiertes, strenges Regelwerk geben. Die Gefahr dahinter: Falls das Beispiel Schule macht, könnte ein Zensurmechanismus geschaffen werden, der antidemokratischen Missbrauch ermöglicht.

Die geforderten Regelwerke wurden inzwischen zum Teil geschaffen. Ein solches bietet der Digital Services Act der EU, der Onlineplattformen verpflichtet, die Verbreitung von Falschinformationen zu unterbinden. Was erlaubt ist und was nicht, soll künftig von "vertrauenswürdigen Hinweisgebern" beurteilt werden. Für diese Rolle können sich, ähnlich wie bei dem Konzept der gerichtlich beeidigten Sachverständigen, Wissenschafterinnen und Wissenschafter oder NGOs bewerben.

Absichtlich gestreute Falschinformationen scheinen jedenfalls aufgrund ihrer Effektivität zunehmend Teil des ganz normalen politischen Werkzeugkastens zu werden. Dieses Problem leugnete auch Merkel nicht: Ihre Stellungnahme erschöpft sich nicht in der Kritik an der Sperre. Kennzeichnungen problematischer Aussagen fand sie durchaus angemessen.

"Angesichts der vielen Wahlen in diesem Jahr und der Auswirkungen, die sie auf einen so großen Teil der Menschheit haben werden, war es noch nie so dringend notwendig, sich gegen Unwahrheiten zu wehren", ist das Autorenteam des Nature-Kommentars überzeugt. (Reinhard Kleindl, 7.6.2024)