Eigentlich könnte Theodor Weimer ein zufriedener Mensch sein. Er ist seit sieben Jahren Chef der Deutschen Börse, sein Unternehmen will dem Rekordgewinn seines Unternehmens heuer noch eines draufsetzen, und der deutsche Leitindex Dax erzielte seit Jahresbeginn laufend neue Kursrekorde. Doch von Zufriedenheit war nichts zu spüren, als er unlängst mit Untergangsszenarien über die deutsche Volkswirtschaft aufschreckte. Er bezeichnete seine Heimat ökonomisch als "Ramschladen", der sich "auf dem Weg zum Entwicklungsland" befinde.

Börsenchef Theodor Weimer bei einer Pressekonferenz.
Theodor Weimer, Chefder Deutschen Börse, übt schwere Kritik an der Wirtschaftspolitik seines Landes.
IMAGO/STAR-MEDIA

Getätigt hat der 64-jährige Weimer die Aussagen bereits im April bei einer Veranstaltung des Wirtschaftsbeirats Bayern. Das Thema der Veranstaltung lautete "Wie holen wir mehr Investitionen nach Deutschland und Bayern?". Konkrete Aussagen dazu blieb Weimer zwar schuldig, er berichtete aber von Gesprächen mit internationalen Investoren, die "fatalistischen Charakter" gehabt hätten. "Ich habe direkte Kenntnis, was Investoren über Deutschland denken", polterte der Börsenchef. "Eines ist klar: So schlecht war unser Ansehen in der Welt noch nie. Noch nie!" Seine wenig schmeichelhafte Einschätzung: "Wir sind, ökonomisch gesehen, auf dem Weg zum Entwicklungsland."

"Zum Ramschladen geworden"

"Was ihr macht, ist ein Wahnsinn", erinnert sich Weimer an seine Investorengespräche. "Wo sind die deutschen Tugenden geblieben? Wir wissen nicht mehr, warum wir in Deutschland investieren sollen." Diese Menschen würden nur noch in Deutschland investieren, weil es so günstig sei – und er fügte seine eigene Schlussfolgerung an: "Wir sind zum Ramschladen geworden." Zudem prangerte Weimer fehlendes Wachstum an und fügte hinzu: "Man kann wachsen. Aber wir sind in einer neuen Welt angekommen." Vor 20 Jahren hätte Deutschland vom Welthandel profitiert, aber nun sei vor allem Technologie "der Treiber". Die Digitalisierung habe man aber nicht hingekriegt. Sein 18. und bisher letztes Treffen mit dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck bezeichnete Weimer als "schiere Katastrophe".

Aber steht es wirklich so schlecht um die deutsche Wirtschaft, wie der Börsenchef behauptet? Wifo-Chef Gabriel Felbermayr sieht das nicht so: "Weimer übertreibt natürlich maßlos", sagt er auf Anfrage. "Deutschland ist definitiv nicht auf dem Weg zu einem Entwicklungsland." Seine Rede zeige aber das Ausmaß der Entfremdung zwischen Wirtschaftsminister Habeck und vielen Managern von Top-Unternehmen. Allerdings räumt der Ökonom ein, "dass Deutschland seit 2017 wirtschaftlich nicht vorankommt". Rund um die "wenig glaubwürdige Energiepolitik" blieben zu viele Fragen offen, dazu kämen Sparzwänge wegen des Urteils des Verfassungsgerichts. "Trotz FDP-Beteiligung ist die Ampel nicht wirtschaftsfreundlich", sagt Felbermayr. "Das ist für den Börsenchef besonders ärgerlich."

Obwohl Weimer die Aussagen bereits im April getätigt hatte, ging die Aufzeichnung des Auftritts mit Kritik an der Wirtschaftspolitik der Ampelkoalition erst knapp vor der EU-Wahl viral und wurde von Vertretern der rechtspopulistischen AfD aufgegriffen. Andere kritisierten den Börsenchef dafür, Alarmismus und pauschales Standort- und Politiker-Bashing zu betreiben. Zudem sei die Wortwahl des zum Jahresende aus seiner Position scheidenden Börsenchefs spaltend. (Alexander Hahn, 10.6.2024)