"Damit wurde eine rote Linie überschritten." Das sagte Österreichs Verteidigungsministerin Klaudia Tanner im Interview mit der Presse auf die Frage, was sie denn davon halte, dass die USA, Frankreich und Deutschland der Ukraine erlaubten, mit westlichen Waffen nun auch gewisse Ziele in Russland anzugreifen. In einer Zeit, in der ein Emmanuel Macron oder ein Joe Biden bewusst weniger rote Linien im ohnehin schwierigen Kampf gegen Wladimir Putins Aggression zu ziehen versuchen, packt Tanner also wieder den symbolischen roten Pinsel aus, nur um eine Antwort später zu sagen, es stehe Österreich als neutralem Staat nicht zu, darüber zu richten, ob es der Ukraine nicht möglich sein soll, sich auf diese Weise zu verteidigen. Völkerrechtlich ist das ukrainische Vorgehen übrigens gedeckt.

Es gibt gute Gründe, warum der französische und der US-amerikanische Präsident mit dem Ziehen roter Linien mittlerweile so vorsichtig sind. Wer eine rote Linie zieht, impliziert, dass es eine Reaktion gibt, wenn diese überschritten wird. Weder zu Beginn der russischen Vollinvasion noch bei der Annexion der Krim und auch nicht in Gaza folgten diesen Ankündigungen auch immer entsprechend harte Reaktionen. Auch seitens des russischen Präsidenten Wladimir Putin wurden seine eigenen roten Grenzen nicht immer mit so viel Leben erfüllt, wie er vorab zu trommeln schien. Macron ging zuletzt viel eher zu einer Art strategischer Ambiguität über, ob in akkordierter Abstimmung mit den Nato-Partnern oder in dem ihm inhärenten Selbstvertrauen.

Gegner im Unklaren lassen

Strategische Ambiguität bedeutet aus geopolitisch-strategischer Sicherheit, dass man seine Gegner nicht immer über alle eigenen Intentionen aufklärt, sie bei manchen Aspekten im Dunkeln tappen lässt, um so etwas mehr Manövrierfähigkeit bei den eigenen Entscheidungen zu behalten. Ein prominentes Beispiel ist etwa die mögliche Verteidigung Taiwans durch die USA, für den Fall, dass es durch China angegriffen wird. Wenn Joe Biden nicht wieder einmal off-script geht und betont, dass man Taiwan selbstverständlich verteidigen würde, ist es eigentlich Usus des Weißen Hauses, nicht bekanntzugeben, in welchem Umfang eine Verteidigung der Insel vor dem chinesischen Festland stattfände. So tappt Peking weiter im Dunkeln und muss sich auf alle Eventualitäten vorbereiten.

Klaudia Tanner sieht durch den Westen eine rote Linie überschritten.
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Ein weiterer Bereich, in dem die strategische Ambiguität Anwendung findet, ist die Nukleardoktrin vieler Länder. Israel etwa hat bis heute nicht offiziell zugegeben, dass es im Besitz nuklearer Waffen ist, sondern lässt seine (potenziellen) Feinde darüber lieber im Ungewissen – auch wenn es natürlich jeder weiß. Viele Nuklearwaffenstaaten lassen es sich ebenso offen, ob und mit welcher Wucht sie auf einen vernichtenden Schlag gegen sich reagieren würden, und erhoffen sich durch das mitschwingende Eskalationspotenzial eine Art Abschreckungslogik. "Es könnte ja sein, dass mein Gegner All-In geht", so die Angst, die stets mitwirken soll.

Kreml-nahe Propagandakanäle erfreut

Zurück zu Klaudia Tanner: Von strategischer Ambiguität kann in diesem Fall eher keine Rede sein, eher von rhetorischer, sagt sie doch binnen weniger Sekunden einmal das eine und dann wieder das andere. Das ist für die österreichische Verteidigungsministerin insbesondere deshalb ein Problem, weil die russische Propagandafalle zu diesem Zeitpunkt bereits zugeschnappt hatte.

Auf dem Kreml-treuen, staatlichen Propagandasender Sputnik, der einst bereits vier Tage nach der russischen Vollinvasion der Ukraine einen Sieg über Letztere ausrief, war am Tag nach dem Tanner-Interview zu lesen, dass Österreichs Verteidigungsministerin durch die Nato-Staaten eine rote Linie überschritten sieht. Davon, dass es Österreich nicht zustehe, als neutraler Staat über solche Entscheidungen zu richten, war auf Sputnik natürlich nichts zu lesen. Auch auf Russia Today fand sich die Schlagzeile "Nato crossed Red Line – Austria". Tanners Aussage wurde demzufolge verständlicherweise gleich als Österreichmeinung präsentiert, immerhin ist sie die Regierungsvertreterin in Fragen der Landesverteidigung. Der Kreml kann auf diese Weise wieder einmal darstellen, dass der Westen gespalten ist. Dort, wo er Zwietracht in Europa säen kann, macht der Kreml das für gewöhnlich auch.

Da half auch nicht, dass sich Tanner "sehr froh über die Klarstellung des Nato­-Generalsekretärs Jens Stoltenberg" zeigte, "dass die Nato keine Truppen in die Ukraine entsenden wird". Denn auch hier schließt Nicht-Nato-Mitglied Österreich in Person von Tanner aus, was Nato-Mitglied Frankreich in Person von Macron aufgrund seines geostrategischen Pokers nicht ausschließt.

Es ist nicht das erste Mal, dass ranghohe österreichische Politiker seit Beginn der russischen Vollinvasion in die russische Propagandafalle tappten. Als Bundeskanzler Karl Nehammer (ebenfalls ÖVP) wenige Wochen nach dem versuchten Sturm auf Kiew dem Besuch beim ukrainischen Präsidenten Woodymyr Selenskyj einen Besuch bei Putin nachschob, machten russische Medien wie pravda.ru kurzerhand ein Betteln um Gas aus dem Besuch – egal ob es sich letzten Endes um ernsthafte Friedensbemühungen, Gasbettelei, beides oder irgendwas dazwischen handelte. Tanner tappte nun erneut in die russische Propagandafalle und machte darüber hinaus nicht klar, wie sie das Überschreiten der roten Linie aus österreichischer Sicht zu sanktionieren gedenkt. (Fabian Sommavilla, 11.6.2024)