Nach 839 Tagen Krieg wird am Dienstag und am Mittwoch in Berlin über den Wiederaufbau der Ukraine debattiert. Was angesichts der andauernden, systematischen Luftangriffe der russischen Armee auf die kritische Infrastruktur der Ukraine verfrüht erscheint, soll dem angegriffenen Land wichtige Perspektiven eröffnen, so Gastgeber und Bundeskanzler Olaf Scholz. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der am Montag auch vor dem Deutschen Bundestag sprach, hat freilich nicht nur die ferne Zukunft im Blick, sondern hofft auf konkrete Zusagen, was Waffenlieferungen betrifft. Dass kurz vor Beginn der Tagung sein Koordinator für den Wiederaufbau, der afghanischstämmige Kiewer Parlamentarier Mustafa Najjem, wegen "systemischer Widerstände" zurückgetreten ist, macht die Mission für Selenskyj nicht einfacher.

Doch worum geht es bei der Konferenz überhaupt? DER STANDARD beantwortet einige der wichtigsten Fragen.

Wolodymyr Selenskyj ist zum dritten Mal seit Kriegsbeginn nach Deutschland gereist – und hofft auf mehr Luftabwehrbatterien.
AFP/POOL/ANNEGRET HILSE

Frage: Wer spricht in Berlin mit wem?

Antwort: Mehr als 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer treffen sich seit Dienstagvormittag im City-Cube-Kongresszentrum in Berlin-Charlottenburg. Nach Lugano 2022 und London 2023 ist es die dritte Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine seit Beginn des russischen Überfalls auf das gesamte Land. Neben Gastgeber Olaf Scholz ("Wir bauen die Ukraine wieder auf – stärker, freier, wohlhabender als zuvor") und Selenskyj haben sich laut dem Veranstalter 70 bis 80 hochrangige politische Gäste angesagt. Weil der proklamierte Hauptzweck des Treffens die Vernetzung zwischen Wirtschaft und Politik ist, setzt sich das Gremium zu etwa je einem Drittel aus Vertreterinnen und Vertretern von Regierungen und internationalen Organisationen, aus Unternehmern und Personen aus der Zivilgesellschaft sowie aus regionalen und kommunalen Politikerinnen und Politikern zusammen. Für Österreich nimmt Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) teil.

Frage: Worum geht es?

Antwort: Zwar steht in Berlin der langfristige Wiederaufbau der Ukraine im Fokus, das Thema Rüstung wurde aber bereits bei der Eröffnungsrede von Scholz prominent adressiert. "Ganz herzlich" bat dieser die anwesenden Staatsgäste darum, die ukrainische Luftverteidigung "mit allem, was möglich ist", zu unterstützen. Schließlich, so der deutsche Kanzler, sei "der beste Wiederaufbau der, der gar nicht stattfinden muss". Selenskyj erhoffte sich Militärhilfen "in Milliardenhöhe", mindestens sieben Patriot-Luftabwehrsysteme brauche die Ukraine, um sich gegen russische Angriffe zu verteidigen. Aktuell verfügt das Land lediglich über drei Patriot-Systeme, zwei aus Deutschland und eines aus den USA. Und auch der besonders intensiv von Russland attackierte Energiesektor brauche dringend Hilfe, so Selenskyj: "80 Prozent der Wärmeerzeugung und ein Drittel der Stromerzeugung aus Wasserkraft wurden zerstört."

Frage: Gab es am Dienstag schon erste Zusagen?

Antwort: 464 Milliarden Euro: So hoch bezifferte die Weltbank kürzlich in einer Schätzung die Schäden, die Russlands Invasion in der Ukraine bisher angerichtet hat – von menschlichen Opfern abgesehen. Wenn es nach Scholz geht, sollen sich auch private Unternehmen mittels Investitionen am Wiederaufbau der Ukraine beteiligen. Was die so dringend benötigte Luftabwehr betrifft, wurde Scholz schließlich konkreter: "Wir werden in den kommenden Wochen und Monaten das dritte Patriot-System sowie ein Iris-T-SLM-System, Gepards, Raketen und Artilleriemunition liefern." Und auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen machte Kiew am Dienstag konkrete Versprechungen: 1,9 Milliarden Euro an Finanzhilfen sollen freigegeben werden. Bereits im Sommer könnten zudem die von Kiew erhofften EU-Beitrittsgespräche beginnen, so von der Leyen.

Frage: Was sagte Selenskyj im Deutschen Bundestag?

Antwort: Wie bei den meisten seiner Reden im Ausland, derer der ukrainische Präsident seit Kriegsbeginn schon so viele absolviert hat, stimmte Selenskyj auch jene im Berliner Reichstagsgebäude auf die historischen Gegebenheiten des Gastlandes ab. Die Ukraine werde es nicht zulassen, dass nach dem Krieg – so wie einst zwischen Ost- und Westdeutschland – eine neue Mauer durch das Land führe, weil man es nicht geschafft habe, Russland die besetzten Gebiete wieder zu entreißen. Voll des Danks war Selenskyj zudem für die Aufnahme tausender ukrainischer Geflüchteter in Deutschland, aktuell aber vor allem für Berlins Engagement, was die Lieferung von Patriot-Luftabwehrbatterien betrifft. Pikant: Die Abgeordneten der rechten AfD sowie der linken Splittergruppe Bündnis Sahra Wagenknecht boykottierten die Rede des ukrainischen Präsidenten demonstrativ. Erstere begründeten dies damit, dass "Selenskyjs Amtszeit abgelaufen" sei – ein Argument des Kreml.

Frage: Wie hat sich die Situation an der Front zuletzt entwickelt?

Antwort: Dass die westliche Militärhilfe der zuletzt in Bedrängnis geratenen ukrainischen Armee wertvolle Dienste leistet, wurde zuletzt besonders im Norden des Landes deutlich: Die Lage in der umkämpften Stadt Charkiw hat sich nach den Worten des Bürgermeisters Ihor Terechow durch die Angriffe mit westlichen Waffen auf russische Stellungen beruhigt. (Florian Niederndorfer, 11.6.2024)