Bagrat Galstanjan im Handgemenge mit einigen armenischen Polizisten
Mehrmals in der Woche protestieren Galstanjan und seine Anhänger – oft schlagen die Proteste auch in ein Handgemenge mit Polizisten um.
via REUTERS/Hayk Baghdasaryan

Polizisten wedeln drohend mit ihren Schlagstöcken, eine Menschenmasse drückt gegen ihre Riot-Schilder. Ein Demozug versucht Mittwoch Abend in Armeniens Parlament einzudringen. Mitten drinnen im Handgemenge ist ein bärtiger Mann in schwarzer Priesterrobe. Es ist Erzbischof Bargat Galstanjan – Anführer einer Protestbewegung, die seit über einem Monat nahezu jeden Tag gegen Armeniens liberale Regierung protestiert. Die Polizei schießt schließlich Blendgranaten in die Menge. Beim Auflösen der Demonstration werden laut Angaben des armenischen Innenministeriums 55 Menschen verletzt. Ein Demonstrierender versucht eine Blendgranate zurückzuwerfen, aber das Geschoss explodiert in seiner Hand. Ihm wird später der Arm amputiert. Der armenische Journalist Sam Martirosyan vom Online-Medium hetq spricht von um die 100 Verhaftungen. Es sind die größten Straßenkämpfe in Armeniens junger Zeit als Demokratie.

Stunden vor den Ausschreitungen hallt "Armenier, Armenien, Mutterland und Gott" durch die Straßen der Hauptstadt Jerewan. Demoteilnehmer singen das extra für die schon mehr als einen Monat andauernden Proteste gegen die Regierung komponierte Lied. Es ist das Finale von viertägigen Dauerdemonstrationen, die Galstanjan vergangenen Sonntag ausgerufen hatte. Auf Gesang und Trommeln folgen "Nikol ist ein Verräter"-Rufe.

Demonstrierende und Polizisten liefern sich ein Handgemenge
Bei Straßenkämpfen am Mittwoch wurden Mittwoch mindestens 55 Menschen verletzt.
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Mit Nikol ist Armeniens Premier Nikol Paschinjan gemeint. Für Galstanjan ist Armeniens liberaler Staatschef ein Defätist und Schwächling. Dieser versucht seit der Eroberung des mehrheitlich armenischen Bergkarabachs vergangenes Jahr durch eine aserbaidschanische Überraschungsoffensive einen neuen Krieg mit dem militärisch überlegenen Nachbar zu verhindern. Teil davon sind auch für viele Armenier schmerzhafte Zugeständnisse.

Grenzwertige Opfer

Eines dieser Zugeständnisse: Armenien zieht die Grenze zu Aserbaidschan neu und übergibt Territorium an Aserbaidschan. Darunter auch Teile von Grenzdörfern in der nördlichen Provinz Tawusch. "Manche werden ihre Häuser oder Felder verlieren, auch Teile der Autobahn Richtung Georgien sollen an Aserbaidschan gehen", erzählt die armenische Journalistin Arshaluys Barseghyan. An der Grenze regte sich Widerstand gegen die Pläne der Regierung: Im April blockierten Bewohner eine Autobahn. Schon damals mit dabei: Galstanjan, der als Erzbischof die Diözese in Tawusch leitete. "Galstanjan gilt als charismatisch und sozial. Andere Geistliche bleiben meist auf Distanz, er trifft sich täglich mit Menschen", erzählt die Journalistin, die die Proteste bereits früh begleitet hat. Der angesehene Kirchenmann steigt schnell zum Anführer der "Tawusch-Proteste" genannten Demos auf.

In ein schwarzes Priestergewand gehüllt und ein goldenes Kreuz um den Hals marschierte Galstanjan schließlich an der Spitze eines Protestmarsches nach Jerewan. Hunderte Armenier strömten hinzu. Galstanjans Status als Priester nutzte ihm in dem tief religiösen Armenien, aber die schnell anschwellende Massenbewegung füllte ein politisches Vakuum, erzählt Armenien-Analyst Benyamin Poghosyan vom Institut APRI Armenia: "Galstanjans Status, kein Politiker zu sein, hat ihm geholfen. Das Vertrauen in die Politik ist massiv geschwunden." Seit der Niederlage in Bergkarabach haben viele Armenier das Gefühl, in einer Spirale an Verlusten gefangen zu sein. Verantwortlich gemacht werden die Politiker – allen voran Premier Paschinjan.

Galstanjan umarmt eine Frau, Protestteilnehmer klatschen im Hintergrund
Galstanjan auf dem Weg Richtung Jerewan.
IMAGO/Alexander Patrin

Frust trieb auch über 30.000 Armenier, etwas mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung des kleinen Kaukasuslandes, zur Abschlussdemo von Galstanjans Protestmarsch in Jerewan. Die Rhetorik des Erzbischofs änderte sich, je größer die Menschenmasse wurde: Er forderte bald nicht mehr nur das Ende der Grenzneuziehung, sondern auch die Abdankung Paschinjans.

Derweil hatte Galstanjan einst noch positive Worte für Paschinjans Reformregierung übrig: 2019 lobte der Erzbischof, der sich als Lobbyist der Grenzdörfer versteht, in einem Interview mit der Online-Plattform eurasianet, dass Schusswechsel an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze abgenommen hätten. Doch Galstanjan radikalisierte sich, je mehr Armenien die Kontrolle über die Konfliktregion Bergkarabach verlor. Der Erzbischof, der sich in einer Messe selbst als Revanchist bezeichnete, tritt heute als strammer Nationalist auf. "Das hier ist unser heiliges Land – unser Mutterland. Wir werden uns nicht ergeben", sagte Galstanjan bereits vor einem Jahr gegenüber Priestern aus dem Ausland.

Kanada: Verbrannte Erde

Geboren in Armeniens zweitgrößter Stadt Gjumri, als Sohn von iranischen Armeniern, studierte Galstanjan früh Theologie. Es folgte eine steile Karriere in Armeniens Nationalkirche, nicht zuletzt auch durch die Gunst von Karekin II., dem Oberhaupt der armenischen Kirche. Karekin II. machte ihn zu seinem Assistenten, 1997 nahm er an der zweiten Konferenz Europäischer Kirchen in Graz teil und wurde schließlich zum Leiter der armenischen Kirche in Kanada gewählt.

Doch Galstanjans Zeit im kanadischen Montréal wurde von Skandalen überschattet. So soll er 2013 im Zuge einer Finanzaffäre versucht haben, eine Kathedrale zu verpfänden, um die Kirchenkasse neu aufzufüllen. Galstanjan verlor darauf die Wiederwahl zum Kirchenleiter in Kanada. Eine von ihm orchestrierte Internet-Schmutzkampagne gegen die Wahlleitung folgte, die kanadische Diözese antwortete mit einem langen und wütenden Statement, in dem er als "Bully" bezeichnet wurde. "Man kann entweder Galstanjans Meinung teilen oder wird von ihm als Feind eingestuft", heißt es in dem Text. Galstanjan wurde nach Armenien zurückgeschickt, wo er die wenig prestigeträchtige Position als Erzbischof der Grenzregion Tawusch zugeteilt bekam.

Ein Mann Moskaus?

Die Feier zum Jubiläum der ersten Republik Armenien am 28. Mai beim Sardarapat-Denkmal im westlichen Armenien hätte ein Lichtpunkt in Paschinjans angeschlagener Amtszeit sein sollen. Doch der Premier musste sich verstecken: Galstanjan und seine Anhänger blockierten das Denkmalgelände. Der Regierungschef konnte sich erst blicken lassen, als der Erzbischof wieder abgezogen war. Galstanjans Störversuche werden zunehmend zu einem konstanten Ärgernis – doch eine neue Allianz des unangenehmen Klerikers beunruhigt den Premier mehr.

Demonstrierende versammeln sich vor dem Sardarapat-Denkmal
Das von Galstanjan blockierte Sardarapat-Denkmal erinnert an einen entscheidenden Sieg Armeniens über die Osmanen 1918.
IMAGO/Alexander Patrin

"Der große Nutznießer ist Robert Kotscharjan", sagte Premier Paschinjan verbittert in einem TV-Interview im Mai. Gemeint ist Armeniens Ex-Präsident und Paschinjans Erzrivale Robert Kotscharjan. Der frühere Journalist Nikol Paschinjan hatte 2018 mit einem Protestmarsch die autoritär regierende Partei Kotscharjans aus dem Amt gejagt. Heute sieht sich Paschinjan mit den gleichen Taktiken konfrontiert, mit denen er einst an die Macht kam. Parteimitglieder der von Kotscharjan gesteuerten Republikanischen Partei begleiten mittlerweile jede Demonstration Galstanjans. "Ich sehe keine Endzeitpanik, aber Paschinjans Regierung ist nervös", glaubt Experte Poghosyan.

Auch die Ultranationalisten der Armenischen Revolutionären Föderation (ARF), Armeniens größte Oppositionspartei, buhlen um Galstanjan. Sowohl Ex-Premier Kotscharjan als auch die ARF wollen sich zunehmend nicht mehr an demokratische Regeln halten. Der Wunsch nach einer "Revolution" beherrscht seit Armeniens Niederlage im Bergkarabach-Krieg 2020 den Diskurs der Opposition. Rhetorische Unterstützung kommt aus Moskau: Die alte Schutzmacht Armeniens, Russland, sieht Paschinjans zunehmende Annäherung an den Westen als Verrat. Spätestens seitdem russische Friedenstruppen in Bergkarabach die Vertreibung der dort lebenden Armenier nicht verhindert hatten, herrscht Eiszeit zwischen Jerewan und Moskau. Der moskautreue Kotscharjan und die russlandfreundliche ARF gelten für Russlands Präsident Wladimir Putin als potenzieller Ersatz. So das Narrativ der Regierung. Wohlwollend war aber auf jeden Fall die Berichterstattung über Galstanjan in russischen Medien wie Sputnik Armenien. Doch direkte Unterstützung aus dem Kreml bleibt aus, sagt Poghosyan: "Armeniens Sicherheitsdienst NSS stellte zuletzt mit einem Statement klar, dass man keine Faktenbasis für auf Facebook verbreitete Gerüchte finden konnte, wonach Galstanjan Geld aus Moskau bekommen würde."

Bischof Galstanjan soll Premier einer Übergangsregierung werden. Darauf hat er sich mit Kotscharjans Republikanischen Partei und der ARF geeinigt. Doch das von dem Oppositionspakt angestrebte Amtsenthebungsverfahren scheint unmöglich: Ein Versuch am Montag, im Parlamentsrat eine außerordentliche Sitzung des Parlaments durchzubringen, scheiterte kläglich. Armeniens Opposition verfügt nur über ein Drittel der Parlamentssitze. "Man müsste Abgeordnete der Regierungspartei dazu bekommen, die Seite zu wechseln", erklärt Poghosyan. "Aus rechtlicher Sicht sind die Proteste in eine Sackgasse geraten."

Polizeiknüppel

Ein "Hooligan" stehe ihm gegenüber, schimpft Armeniens Polizeichef bei einer nächtlichen Demonstration Anfang Juni. Sein Gesprächspartner ist Bagrat Galstanjan. Umringt von Anhängern des Erzbischofs und TV-Kameras fordert der Polizeichef ein Ende der "Provokationen". Erzbischof Galstanjan antwortet wütend mit erhobenem Zeigefinger. Mehrere Demonstranten wurden schon verhaftet, Polizisten trommeln bereits mit Knüppeln auf ihren Riot-Schildern. Galstanjans Proteste radikalisierten sich zunehmend.

In Paschinjans Partei "Zivilvertrag" wittert man einen von Russland orchestrierten Umsturzversuch. Umso aggressiver wurden die Attacken auf Galstanjan. "Zivilvertrag"-Politiker beschimpften den Erzbischof im Parlament als "russischen Spion" und "Faschisten", immer wieder landen Demo-Teilnehmer in Präventivhaft, ein ARF-Parlamentsabgeordneter wurde von Polizisten krankenhausreif geprügelt. "Kein Polizist wurde dafür verurteilt, es gab nur eine Entlassung", so Analyst Poghosyan. Erst am Dienstag verhaftete Armeniens Geheimdienst NSS zwei enge Verbündete Galstanjans. Die in Kenia als "Bling-Bling-Brüder" bekannten Geschwister sollen dort in den 2000ern für die kenianische Regierung als Söldner aktiv gewesen sein und laut Lesart der Regierung ihre Kontakte in die organisierte Kriminalität genutzt haben, um in Armenien einen Putsch vorzubereiten.

Konfrontation zwischen Demonstrierenden und der Polizei in Jerewan
Die Polizei schützt schon seit längerem mit vermehrtem Personalaufgebot Ministerien und das Parlament.
AP/Hayk Baghdasaryan

Nach den Straßenkämpfen am Mittwoch werden zunehmend Stimmen laut, die die Verhaftung von Galstanjan fordern. Auch aus der Regierungspartei "Zivilvertrag": "Selbst Ihre kanadische Staatsbürgerschaft wird Sie nicht retten, Sie lügender Krimineller", schrieb der "Zivilvertrag"-Parlamentsabgeordnete am Mittwoch auf Facebook. Doch Galstanjan ist auf freiem Fuß: Mittwoch Nacht besuchte er verletzte Anhänger im Krankenhaus. Am Donnerstag sollen die Proteste weitergehen. (Raphael Bossniak, 13.6.2024)