Der gegenwärtige Krieg im Nahen Osten ist in vielfältiger Weise mit Europa und vor allem mit dem deutschsprachigen Raum und seiner tragischen Geschichte verbunden. Es ist nicht verwunderlich, dass er Diskussionen in Deutschland und Österreich hervorruft, die allzu schnell in Vereinfachungen und Anschuldigungen münden. Grundsätzlich scheint uns eine konstruktive Diskussionskultur verlorengegangen zu sein. Aber im Interesse einer gerechten Konfliktlösung sollten wir uns von schnellen Be- und Verurteilungen lösen und offen für kritische Diskussionen sein.

Der Umgang mit kontroversiellen Meinungen

So meinte kürzlich Eva Menasse in ihrem "Plädoyer für Großzügigkeit, Gelassenheit und Verzeihen" in Die Zeit: "Man unterscheidet nicht mehr zwischen seriösen Kritikern, Skeptikern, Besorgten, schlecht Informierten hier und den echten Staatsfeinden dort, die sich feixend dazwischenducken."

Auch was die aktuellen Auseinandersetzungen nach dem furchtbaren Hamas Anschlag vom 7. Oktober betrifft, argumentiert sie für mehr Toleranz und Gelassenheit: "Wir wiederholen beschwörend 'Nie wieder' und überlegen gleichzeitig fieberhaft, was wir als Nächstes absagen, wen wir als Nächstes wortreich für untragbar erklären und ausladen, wen wir 'depublizieren', wem wir seinen Preis oder seine Ehrenprofessur entziehen müssen." Menasse verweist damit auf die vielfältigen Reaktionen gegenüber kontroversiellen Personen und Meinungen.

Es ist diese Einschränkung der Meinungsfreiheit und die mangelnde Bereitschaft zu einer offenen Diskussion, die zu denken geben sollte. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina bedarf aber besonders viel Diskussion, soll er nicht immer weiter schwelen und in der Folge auch in unseren europäischen Migrationsgesellschaften neue Konflikte hervorrufen. Es gilt vielmehr, die auch geistigen Voraussetzungen zu schaffen, um schrittweise zu einer Lösung des Konflikts zu kommen, so schwierig das auch ist.

In diesem Zusammenhang meint Avner Ofrath in seinem Beitrag "Anatomie der Gewalt" im Magazin Merkur: "Bisweilen scheint es, als wäre man in manchen Kreisen bereit, über alles zu diskutieren – nur nicht darüber, was konkret in Israel/Palästina geschieht, über die eigentliche Geschichte, Gegenwart und die Zukunft des Landes." Aber genau darüber sollten wir in Deutschland und Österreich diskutieren, wollen wir uns nicht jenen anschließen, die akzeptieren, dass in diesem Konflikt auch in Zukunft "Menschenleben so gleichgültig, so rücksichtslos behandelt werden wie in den letzten Monaten".

Europa und der Nahe Osten

Für alle, die ein Interesse haben, sich mit der vielfach verwobenen Geschichte Europas, insbesondere von Nazi-Deutschland – zu dem auch Österreich gehörte – und Israel und Palästina zu beschäftigen, finden im Mail-Dialog zwischen Moshe Zimmermann und Moshe Zuckermann, der unter dem Titel Denk ich an Deutschland … publiziert wurde, viel Stoff zum Nachdenken und zum differenzierten Denken und Diskurs.

Im ersten Mail von Zuckerman an Zimmermann wird der Ausgangspunkt jeder vernünftigen Debatte über die Herausforderungen des Konflikts zwischen Israel und Palästina aus europäischer Sicht klar genannt: "Deutschland hat den Holocaust des europäischen Judentums verursacht. Die Gründung des Staates Israel (jedenfalls die Beschleunigung der Gründung) war unter anderem das Ergebnis dieses welthistorischen Ereignisses im Sinne einer nationalen staatlichen Zufluchtsstätte für das jüdische Volk bei jedem künftigen es ereilenden Unglück. Aber die Staatsgründung als emanzipativer Akt für die Juden ging mit einer kollektiven Katastrophe für das palästinensische Volk einher."

Im Interesse einer gerechten Konfliktlösung sollten wir uns von schnellen Be- und Verurteilungen lösen und offen für kritische Diskussionen sein.
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Allerdings, so fügt er hinzu, "Israelis und Palästinenser ignorieren beidseitig die historischen wie gegenwärtigen Opfer des je anderen Kollektivs". Genau darum geht es auch im von Bashir Bashir und Amos Goldberg herausgegebenen Buch The Holocaust and the Nakba. Jüdische und arabische beziehungsweise palästinensische Wissenschafter diskutieren darin das Leiden beider Völker und die notwendige gegenseitige Anerkennung dieses Leids – ohne es allerdings auf die gleiche Stufe zu stellen.

Das Ignorieren des Leids der jeweils "anderen Seite" findet so auch außerhalb Israels und Palästinas statt. Es ist erschreckend, wie manche pro-palästinensische Kräfte sowohl den Holocaust leugnen als auch die terroristischen Aktivitäten der Hamas und ähnlicher Gruppen rechtfertigen beziehungsweise verniedlichen. Wer das Interesse an einer demokratischen und fortschrittlichen palästinensischen Gesellschaft hat, kann sich nicht mit autoritären und terroristischen Gruppen und Holocaust-Leugnern solidarisieren.

Genauso unverständlich ist die Haltung mancher proisraelischer Vertreter:innen, die das Leid der Palästinenser und die Opfer der israelischen Besatzung leugnen beziehungsweise missachten. Das sind dann auch die Kräfte in und außerhalb Israels, die allzu schnell die Kritik an Israels Verhalten mit dem Vorwurf des Antisemitismus begegnen.

Missbrauch der Holocaust-Erinnerung

Dazu meint Moshe Zimmermann in einem seiner Mails an Moshe Zuckermann: "Wir machen uns selbstverständlich nichts vor: Viele gegen Israel erhobene Vorwürfe sind antisemitischen Charakters, respektive weisen einen antisemitischen Unterton auf. Entscheidend ist jedoch die Tendenz des israelischen Establishments, den Begriff 'Antisemitismus', ohne ihn genau zu definieren, stets als Vorwand zu benützen, um jede Kritik an der israelischen Politik abzuschmettern."

Und das offizielle Deutschland und in dessen Windschatten auch das offizielle Österreich schließt sich allzu schnell und allzu leicht dieser Haltung des israelischen Establishments an. Besonders bedauerlich ist das, wenn das israelische Establishment durch eine extreme rechtsnationalistische Regierung, wie es derzeit der Fall ist, repräsentiert wird.

In diesem Zusammenhang kritisieren etliche jüdische Wissenschafter – so auch Omar Bartov, der in Kürze in Wien einen Vortrag beim Sir-Peter-Ustinov-Institut halten wird – den Missbrauch der Erinnerung an den Holocaust. In einem "Offenen Brief zum Missbrauch des Gedenken an den Holocaust" den Omar Barov gemeinsam mit anderen im November 2023 verfasst hat, heißt es unter anderem: "Fünfundsiebzig Jahre der Vertreibung, sechsundfünfzig Jahre der Besatzung und sechzehn Jahre der Blockade von Gaza haben eine immer schlimmer werdende Spirale der Gewalt erzeugt, die nur durch eine politische Lösung beendet werden kann."

Und die Autor:innen kritisieren, dass die israelische Regierung die Erinnerung an den Holocaust benützen, um die kollektive Bestrafung der Bevölkerung des Gazastreifens als Kampf für die Zivilisation angesichts der Barbarei darzustellen und damit rassistische Vorurteile bedienen.

Zwischen Solidarität und Kritik

Es ist nur allzu verständlich und zu begrüßen, wenn Deutschland und Österreich aus den Verbrechen der Shoa den Schluss gezogen haben, in Solidarität zu Israel zu stehen. Dazu meint allerdings Jonas Rosenbrück in seinem Beitrag "An der Seite Israels" – ebenfalls im Magazin Merkur: "Wenn die Deutschen aus der Erinnerung der Schoah primär die Solidarisierung mit dem israelischen Staat als Teil der Staatsraison ableiten, haben sie damit sowohl 'zu viel' als auch 'zu wenig' aus der Vergangenheit gelernt."

Es gilt sowohl für Deutschland als auch für Österreich, die ganze Komplexität des Konflikts im Auge zu haben und das Recht auf ein sicheres Leben aller zu vertreten. Dabei ist die Sicherheit der Juden in Israel selbst und darüber hinaus eng mit der Lösung des Palästina Konflikts verbunden.

Die Solidarität mit Israel sollte geradezu intensiv genützt werden, um für friedliche Lösungen einzutreten. Moshe Zimmermann meint in einem Mail an Zuckermann: "Israel hat mehr Angst vor dem Frieden als vor dem Kriegszustand. Auch wie Du kann ich die Fehler, den Fanatismus und die Dummheit auf der arabisch-palästinensischen Seite nicht ignorieren, aber auch diese wären nicht gravierend gewesen, wenn Israel nicht Angst vor dem Frieden hätte."

Die Angst vor dem Frieden

Genau hier müsste die europäische/deutsche/österreichische Debatte, aber auch Politik ansetzen. Der Angst vor dem Frieden, der von den rechts-nationalistischen bis rassistischen Kräften in Israel geschürt wird, muss vor allem seitens jener entgegengetreten werden, die sich mit Israel und seiner jüdischen – aber hoffentlich auch arabischen – Bevölkerung solidarisch erklären. Und dasselbe gilt für die Palästinenser in Gaza und im Westjordanland. Auch sie haben Angst vor dem Frieden beziehungsweise ihnen wird von verantwortungslosen radikalen Kräften eingeredet, sie könnten im Frieden nur verlieren.

Die Verantwortung all jener, deren Vorfahren Mitschuld am Konflikt im Nahen Osten haben, besteht darin, sich um die Ängste jener zu kümmern, die glauben, der Krieg ist immer noch besser als der Friede. Dabei können und sollten sie sich jener Argumente bedienen, die von jüdischen Vertreter:innen innerhalb und außerhalb von Israel vorgebracht werden. Deshalb ist diese innerjüdische Debatte so wichtig zu verfolgen – und deshalb fürchten diesen offenen Dialog vor allem jene israelischen Kräfte und deren Unterstützer, die sich von Gewalt und Besatzung nicht abbringen wollen.

Noch steht die Realpolitik, die derzeit in Israel vor allem von Rechten betrieben wird, der intellektuellen Debatte entgegen. Aber wenigstens in der kritischen europäischen Öffentlichkeit sollten wir nicht in eine Schwarz-Weiß-Beurteilung fallen, sondern uns gemeinsam mit kritischen Geistern aus Israel beziehungsweise jüdischen Intellektuellen aus aller Welt in eine friedlichere Zukunft hineindenken. Und wir sollten versuchen, für diesen Diskurs auch palästinensische Intellektuelle zu gewinnen. Das Sir-Peter-Ustinov-Institut wird jedenfalls in dieser Richtung aktiv werden. (Hannes Swoboda, 19.6.2024)