Die Auszählung der EU-Wahl-Stimmen ist in Irland noch im Gange.
AP/Niall Carson

Es war einmal ein Land am Rande Europas. Wie in vielen anderen Ländern des Kontinents gab es im Juni 2024 auch dort Wahlen zum gemeinsamen Parlament. Während sich in Brüssel aber längst die neugewählten Abgesandten aus Rumänien, Deutschland und Spanien versammelten, mussten die Kandidaten in Irland noch warten ... und warten ... und warten.

Dabei gehörte die irische Bevölkerung zu den Frühaufstehern: Bereits vergangenen Freitag machten die Wahlwilligen ihre Kreuzchen, und zwar nicht nur für die Europawahl, sondern auch für die Kommunalvertretungen im Land. Ausgezählt wurde wie anderswo üblich keineswegs unmittelbar nach Schließung der Wahllokale. Warum auch solche Hast? Am Samstag begann die Auswertung der Stimmen für Rathäuser und Gemeinderäte, erst danach ging es um die 14 Abgeordneten für das Europäische Parlament, ein Mandat mehr als 2019.

Schlappe für die Opposition

Immerhin gab es schon bald eine Reihe von Erkenntnissen. Die Iren würden, so die weitverbreitete Erwartung, beim ersten Urnengang seit gut vier Jahren die Gelegenheit dazu nutzen, die Dubliner Dreierkoalition ordentlich abzuwatschen. Weit gefehlt. Je mehr Sitze verteilt waren, desto deutlicher wurde: Der Stimmenanteil für die konservative Fine Gael des erst seit März amtierenden Premiers Simon Harris sowie für die nationalliberale Fianna Fáil unter Außenminister Michéal Martin war stabil geblieben. Hingegen mussten die Grünen als Dritte im Bunde massive Einbußen hinnehmen.

Vor allem aber erlitt die oppositionelle Sinn Féin unter ihrer langjährigen Chefin Mary Lou McDonald eine schlimme Schlappe. Dabei lagen die Linkspopulisten seit Jahren in den Umfragen unangefochten vorn. "Das war nicht unser Tag", räumte die 55-Jährige bereits am Sonntag ein. Erstmals gab es in der straff geführten Partei Stimmen, die öffentlich McDonalds Ablöse forderten – bisher undenkbar für eine Gruppierung, die im britischen Nordirland als politischer Arm der katholisch-republikanischen Terrortruppe IRA groß geworden ist.

Sinn-Féin-Chefin Mary Lou McDonald bei der Stimmabgabe am Sonntag. "Das war nicht unser Tag", räumte sie nach der Wahl ein.
REUTERS/Clodagh Kilcoyne

Sinn Féin habe "ihre Rolle als Stoßdämpfer der irischen Politik verloren", resümierte der bekannte Publizist Fintan O'Toole. Die historische Feindschaft gegenüber der Kolonialmacht Großbritannien hatte den Linkspopulisten erlaubt, sich in die irische Trikolore zu hüllen, gleichzeitig aber migrantionsfreundliche Politik zu machen. Damit scheint angesichts der schreienden Wohnungsnot und der zunehmend aggressiv diskutierten Einwanderung Schluss zu sein. Was O'Toole die "ethnonationalistische" Wählerschaft nennt, geht Sinn Féin zunehmend verloren.

Präferenzwahlsystem

Unterdessen wurde landesweit brav weitergezählt. Dass dieser Vorgang auf der Grünen Insel stets mehrere Tage dauert, liegt am System der "single transferable vote" (STV), einem Präferenzwahlsystem: Statt eines Kreuzes beim jeweiligen Kandidatennamen vergeben die Abstimmenden Noten von Eins abwärts. Das gilt als besonders gerecht und demokratisch, richtet es doch das Augenmerk der Wählerschaft auf Personen statt auf Parteilisten und wahrt die Bindung der Gewählten an ihren jeweiligen Wahlkreis.

Darin dürfte einer der Gründe dafür liegen, dass die Irinnen und Iren traditionell vergleichsweise vielen Unabhängigen das Vertrauen schenken. Im Wahlkreis Midlands-Nordwesten, wo fünf EU-Mandate vergeben werden, standen 27 Namen auf dem Stimmzettel, der deshalb 73 Zentimeter lang war.

Rhetorik und Vorgehen verschärft

Freilich nimmt das Auszählen viel, sehr viel Zeit in Anspruch. Und so waren bis zum Donnerstagfrüh, dem sechsten Tag nach der Wahl, zwar alle Kommunalmandate vergeben, hingegen standen erst fünf MEPs fest, darunter alle vier im Wahlkreis der Hauptstadt Dublin. Dort verlor die notorische Trotzkistin und Putin-Versteherin Clare Daly ihr Mandat zugunsten eines Sozialdemokraten; im neuen Stadtrat aber sitzen auch drei Rechtsradikale, die ein hartes Vorgehen gegen Asylwerber fordern.

Um diesen Bewerbern den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte die Dreierkoalition ihre eigene Antimigrationsrhetorik zuletzt verschärft. Immer wieder wurden demonstrativ Zeltstädte von Asylwerbern in der Dubliner Innenstadt geräumt. Die 2022 großzügig aufgenommenen Flüchtlinge aus der Ukraine sehen sich immer häufiger mit der Aufforderung nach einer Rückkehr in ihre Heimat konfrontiert. Der politische Trend dürfte weitergehen. Das allerletzte Kommunalmandat eroberte am Mittwochabend in der Grafschaft Kildare der Bauunternehmer Tom McDonnell für die migrantenfeindliche Gruppierung Eire Saor ("Freies Irland").

Die Kandidatinnen für das Europaparlament blieben weiterhin zwischen Hoffen und Bangen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann zählen sie – na, wahrscheinlich mindestens bis Freitag, eine ganze Woche lang. (Sebastian Borger, 13.6.2024)