Der Fußball hat sich zu einem komplexen, facettenreichen und schnellen Hochleistungssport entwickelt. Formationen und Taktik spielen eine besondere, nein, entscheidende Rolle für den Erfolg.
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Geht ein Plan nicht auf, werden Spieler und Trainer kritisiert und in der Folge auch oft das Spielsystem hinterfragt. Im Nachhinein glauben meist viele zu wissen, warum es nicht geklappt hat – auch wenn oft unterschiedliche Gründe dafür gefunden werden. Auch bei dieser Europameisterschaft wird bei Hopfenkracherl und Salzgebäck wieder viel über Taktik und Systeme leidenschaftlich diskutiert und auch gestritten werden.

Nicht selten ist aber immer noch zu vernehmen, dass die Bedeutung des Spielsystems überbewertet wird. Wie wichtig ist es nun wirklich? "Das System ist schon wesentlich. Es ist ein Arbeitsrahmen, der sich in erster Linie nach den Spielern und ihrer Qualität richten muss. Wenn ich drei gute Stürmer habe, warum soll ich nicht drei aufstellen?", sagt Manfred Uhlig, der unter anderem seit rund 30 Jahren als Trainer und Ausbildner an der Bundessportakademie Wien tätig ist und seit mehr als 20 Jahren am Zentrum für Sportwissenschaften unterrichtet.

Im modernen Fußball sollte sich das eigene System auch am Gegner orientieren, zumindest geringfügig angepasst sein, erklärt der 61-Jährige. Starre Systeme haben ausgedient, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sind gefragt. „Das System verändert sich in Abhängigkeit vom Spiel und der Dynamik. Man nennt das ein fluides System. Wie man sein Spiel aufzieht, ist abhängig von der Spielidee, vom Spielstand und vom Zeitpunkt." Einfluss haben auch Spielerwechsel, denn oftmals geht mit ihnen ein Systemwechsel einher.

Das Realtaktische

Systeme gibt es einige, dazu kommen Variationen. Sie beschreiben die Rollen aller Spieler in den verschiedenen Konstellationen. "Wir unterscheiden jetzt nicht mehr zwischen Formationen und System. Aus praktikablen Gründen nehmen wir es zusammen und sagen nur mehr System, es ist die dynamische Form einer Formation, wie sie am Feld ausgeübt und umgesetzt wird", sagt Uhlig. Man spricht dabei auch vom realtaktischen System.

Manfred Uhlig: "Fußball ist ein Fehlerspiel, auch ein Players-Game. Die Spieler müssen selbst in entscheidenden Situationen zu richtigen Lösungen kommen."
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Je nach Spielstand und Spielsituation können in einem Match mehrere Systeme zur Anwendung kommen. Um situationselastisch agieren zu können, brauche es flexible, anpassungsfähige, handlungsfähige, kreative, naturbelassene und topfitte Spieler. Alles wird perfektioniert und optimiert. Spieler brauchen aber auch Freiheiten, speziell Instinktfußballer.“

Räume und Freiheiten

Real-Trainer Carlo Ancelotti müsse mit Vinicius Júnior nicht viel besprechen. "Dem muss man nur sagen: bitte Eins-zu-Eins und rein, gemma! Manche brauchen vielleicht mehr Informationen, andere sollen ihre Freiheiten ausleben dürfen." Entscheidend seien letztlich die Spielräume. Uhlig: "Wo gibt es Räume zu bespielen, die genützt und attackiert werden können, um Erfolge zu erzielen?” Man wolle hinter die gegnerische Abwehr kommen, das sei der wichtigste Raum. Wenn der Gegner tief stehe, werde es freilich schwieriger.

Die bei der EM nach Erfolg suchenden Teams können sich etwa an Deutschlands Meister Bayer Leverkusen ein Beispiel nehmen. Uhlig: „Sie spielen ein sehr fluides System mit ein paar Prinzipien. Es geht um Interaktionen. Sie bringen dort, wo der Ball ist, möglichst viele Spieler hin, überladen den Bereich. Mit der Konsequenz, dass sich dorthin auch viele Gegenspieler orientieren. In der Folge wird meist auf der Gegenseite Raum frei, den man nützen kann, um den freien Mann oder Eins-zu-Eins-Situationen zu suchen."

Vier Leverkusener gegen zwei Bergamasken: Deutschlands Meister verschafft sich durch Überladen von Bereichen oftmals Vorteile, im Finale der Europa League gegen Atalanta führte dies allerdings nicht zum Erfolg.
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Leverkusen wäre beinahe makellos durch die Saison spaziert, wäre die Werkself nicht im Finale der Europa League mit 0:3 an Atalanta Bergamo gescheitert. Uhlig: "Atalanta hat im Prinzip mann-orientiert gespielt, das ist eigentlich oldschool. Und sie haben hoch gepresst. Damit haben sie Leverkusen im wichtigsten Match den Schneid abgekauft."

Systemumstellungen während des Spiels müssen die Spieler selbstständig vornehmen, der Trainer gibt den Rahmen vor, sagt Uhlig. Es gelte, viele variable Spielformen und neue Situationen zu schaffen. Und der Trainer solle nicht alles vorgeben, er soll die Spieler machen lassen. Auch auf die Gefahr hin, dass nicht immer alles klappt. "Fußball ist ein Fehlerspiel, auch ein Players-Game. Die Spieler müssen selbst in entscheidenden Situationen zu richtigen Lösungen kommen."

Lobeshymne für das ÖFB-Team

Das zeichnet für Uhlig auch Österreichs Team aus, dem er das Erreichen des Viertelfinales zutraut. "Es ist ein super Geist hineingekommen. Viele Spieler sind von Red Bull geschult, haben viel davon mitgenommen. Dazu kommt Ralf Rangnick, er bringt einen positiven Spirit rein. Sie sind stark genug, denken basierend auf den Qualitäten positiv und spielen mutig." Auch wenn Fußball ein "Chaosspiel" und vieles unvorhersehbar sei, so sei das Vertrauen in die eigenen Stärken, und der Mut enorm wichtig, um eine Teamdynamik zu entfachen. Dafür mitverantwortlich ist auch der Teamchef, der im ÖFB für einen Paradigmenwechsel sorgte und mithalf, das Umschaltspiel zu perfektionieren.

Uhlig erwähnt diesbezüglich die sogenannte Sechs-Sekunden-Regel: Wenn man den Ball in der gegnerischen Hälfte verliert und in den folgenden sechs Sekunden wieder zurückgewinnt, dann hat man statistisch betrachtet gute Chancen, zu einer Torchance zu kommen. Wenn es länger dauert, dann muss man sich wieder zurückfallen lassen und neu organisieren.

Als besonders wichtig stuft Uhlig das prompte Draufdrücken des ÖFB-Teams von Beginn an ein. "Sie versuchen, gleich in den ersten Minuten ein Tor zu schießen. Die Bedeutung des ersten Tores wird oft unterschätzt. Die Wahrscheinlichkeit ist abhängig vom Leistungsniveau bei zirka 75 Prozent, dass jene Mannschaft das Spiel gewinnt, die das erste Tor schießt."

Christoph Baumgartner, ein Spieler, der für schnelle Tore wie geschaffen scheint.
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Von Defensivkonzepten, wie sie etwa José Mourinho praktizieren lässt, ist Uhlig nicht angetan. Auch wenn es letztlich um Erfolg gehe, so sei Attraktivität schon wichtig.

Vicente del Bosque hat bei der EM 2012 mehr oder weniger darauf gepfiffen und Spanien im Finale gegen Italien mit einer unansehnlichen 4-6-0-Defensivformation zum Erfolg geführt. Selbst weniger starke Teams können sich als nur schwer biegbar erweisen, wenn sie körperlich fit und defensiv top organisiert sind sowie tief stehen. "Dann tun sich auch gute Mannschaften schwer. Da braucht es ein gewisses Spieltempo und individuelle Qualitäten, um sie zu knacken."

Gelingt das nicht, wird gerne mangelnde Laufbereitschaft attestiert. Mehr zu rennen, führt aber nicht unbedingt zum Erfolg. Aussichtsreicher kann da etwa das vom FC Barcelona entwickelte und durch viel Ballbesitz und Kurzpassspiel bestimmte Tiki-Taka sein. Wenn der Gegner den Ball nicht hat, kann er auch kein Tor schießen. Uhlig: „Eine gewisse Laufleistung ist notwendig, um ein gewisses Spielkonzept umzusetzen, aber das Motto sollte sein: so wenig als möglich laufen und so viel als nötig zur Umsetzung des Spielkonzepts. Es gilt, ökonomisch zu bleiben. Johan Cruyff hat immer gesagt, der Ball muss laufen, er ist der schnellste Mitspieler."

Schneller weniger weit

Idealerweise läuft man mit hohem Tempo nach vorne, also vertikal und nicht horizontal. "Muss der Gegner ständig laufen, wird irgendwann eine Lücke frei. Stürmer und Verteidiger laufen heute anders als zu Zeiten eines Toni Polster in etwa gleich viel, rund zwölf Kilometer im Schnitt und damit deutlich mehr als etwa ein Lionel Messi." Der gerne auch mal spazierende, aber enorm stark dribbelnde Argentinier kam in der spanischen Liga oftmals nicht einmal auf sieben Kilometer und war dennoch meist bester Spieler am Platz. Erhöht haben sich die Umfänge an Sprints und High-Intensity-Läufen, wesentlich kürzer geworden sind die Ballkontakte.

Das klassische 3-5-2 von Seinerzeit mit Libero und Spielmacher gibt es in dieser Form eigentlich nicht mehr, möchte man meinen. "Genau genommen wird in der Viererkette aber praktisch auch mit so einer Art Libero gespielt. Nicht so wie früher, aber wenn einer aus der Viererkette einen Gegenspieler attackiert, dann sichern die anderen drei in einem Abwehrdreieck ab", sagt Uhlig. Vieles von früher komme zurück, statt Manndeckung gebe es heute aber eher eine mannorientierte Deckung.

Prominente Vorreiter

Der moderne Fußball hat sich über Jahrzehnte zu dem entwickelt, was er heute ist und der Plafond ist bestimmt noch nicht erreicht. Revolutioniert haben ihn unter anderen Österreichs "Wödmasta" Ernst Happel und "General" Rinus Michels. Der Niederländer hatte mit Ajax Amsterdam und den Oranjes um Johan Cruyff in den 1970er Jahren den Totalen Fußball (Totaalvoetbal) ins Leben gerufen, wonach alle Feldspieler gemeinsam angreifen und verteidigen. Das aus gewöhnlichem Forechecking entwickelte Pressing geht zurück auf Happel, der bereits in den 1980er-Jahren als Verfechter der totalen Offensive das 4-3-3-System mit Viererkette und drei Stürmern sowie das Arbeiten mit Abseitsfalle etabliert hatte. (Thomas Hirner, 15.6.2024)