Die russische Führung treibt ihre Pläne zur "Verwässerung" des Rechts auf Abtreibung weiter voran. Jüngste Maßnahme dazu: die neuen "Klinischen Richtlinien" des Gesundheitsministeriums zum "induzierten Schwangerschaftsabbruch". Hinter dem bürokratisch-sperrigen Titel verbergen sich – trotz der an sich anderslautenden Bezeichnung – Pflichten für medizinisches Personal. Patientinnen müssten künftig angstmachende Fehlinformationen über die Risiken eines Schwangerschaftsabbruchs präsentiert werden, analysiert das Exilmedium Meduza.

Zwei schwangere Frauen liegen auf Krankenhausbetten, ihre Bäuche sind mit medizinischen Instrumenten bedeckt. 
Zwei schwangere Frauen werden auf diesem Archivbild aus dem Jahr 2003 im russischen Jekaterinburg untersucht.
AP/Ural Press Photo

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Abtreibungen grundsätzlich als "sehr sicher", wenn qualifiziertes Personal die von der WHO empfohlenen Methoden verwendet. Die Bestimmung, die in Russland Anfang nächsten Jahres in Kraft treten soll, zeichnet jedoch ein deutlich anderes Bild. Frauen werden in Zukunft eine Reihe falscher Informationen zu hören bekommen, wenn sie medizinisches Personal wegen eines Schwangerschaftsabbruchs aufsuchen, schreibt Meduza.

Die "Empfehlungen" des Gesundheitsministeriums sind nämlich bindend, wie das Oberste Gericht Russlands im August 2023 angeordnet hat. Das offizielle Dokument sei von einer Fachgesellschaft erstellt worden. Es ist unklar, ob diese nun die Qualifikation des medizinischen Personals neu bewertet – wenn nicht, müsste der Eingriff sicher sein.

"Nicht ungefährlicher Eingriff"

Mit einer somit sehr wahrscheinlich faktisch falschen Hiobsbotschaft beginnen die im "Anhang V" beschriebenen "Informationen für Patientinnen": "Ein Schwangerschaftsabbruch stellt eine nicht ungefährliche Prozedur dar und geht mit dem Risiko verschiedener Komplikationen einher!", heißt es dort. Spätfolgen wären unter anderem Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten oder Funktionsstörungen der Eierstöcke. Und: Erwiesen wäre ein Zusammenhang zwischen Schwangerschaftsabbrüchen und der "Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Brustkrebs und neuropsychiatrischen Störungen", wird in dem offiziellen Dokument beschrieben.

Neben der Angstmacherei sehen die neuen Bestimmungen auch höhere Eingriffsschwellen vor. Es werde eine Reihe von Untersuchungen der Patientinnen eingeführt, die deutlich länger seien als in vielen anderen Ländern und als von der WHO vorgeschrieben, schreibt Meduza. Ziel sei es, mit Nachdruck nach Kontraindikationen zu suchen – um so argumentieren zu können, dass der Eingriff aus klinischer Sicht unverantwortlich sei, meint dazu das Exilmedium.

Herzschlag des Fötus muss gehört werden

Künftig müssen Frauen vor einer Entscheidung auch psychologische bzw. psychotherapeutische Fachkräfte konsultieren. Außerdem müssen sie sich verpflichtend einer Ultraschalluntersuchung unterziehen, bei der die Patientinnen "den Herzschlag des Fötus hören". In den Bestimmungen heißt es weiter: "Sie sollten nicht abtreiben, es sei denn, Sie sind sich absolut sicher, dass Sie die Schwangerschaft abbrechen wollen, oder es gibt einen medizinischen Grund dafür."

Frauen stehen neben einer Bushaltestelle in der nächtlichen Großstadt St. Petersburg, die Anzeigentafel zeigt eine Information für Schwangere. 
Diese Werbung im Oktober 2023 in Sankt Petersburg richtet sich an schwangere Frauen. Auf dem Plakat steht: "Eine werdende Mutter denkt: Was soll ich jetzt tun? Schaffe ich das? Wo finde ich Unterstützung?"
AP

Die russische Staatsmacht greift immer stärker in die privatesten Lebensbereiche der russischen Bevölkerung ein. Ziel ist die weitere Zersetzung all dessen, was nicht in ein "traditionelles" Wertebild passt. So wurde im November 2023 die "internationale LGBTIQ-Bewegung" als "extremistisch" eingestuft. Ein Jahr zuvor führte Russlands Präsident Wladimir Putin im August 2022 den Ehrenorden "Heldenmutter" (Mat geroinja) für kinderreiche Frauen ein – und reanimierte damit eine sowjetische Auszeichnung aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Seit Jahren schon können manche kinderreiche Familien zu einer feierlichen Zeremonie bei Putin kommen – Maßnahmen, mit denen die demografische Situation des Landes verbessert werden soll.

Weniger Abtreibungen reichen manchen nicht

Indes ist die Zahl der Abtreibungen seit Jahren rückläufig: Seit den 1990er-Jahren soll sie laut der Zeitung Kommersant um rund sechs Prozent pro Jahr sinken, von 2010 bis 2022 habe sie sich auf rund 504.000 mehr als halbiert. Einigen geht das nicht weit genug, insbesondere der russisch-orthodoxen Kirche, wie Radio Swoboda analysiert. Das Kirchenoberhaupt, Metropolit Kyrill, war früher beim sowjetischen Geheimdienst KGB – wie auch Wladimir Putin.

Doch trotz dieser Verflechtungen und eines Werbeverbots für Abtreibungen schon 2013 gibt es in Russland nach wie vor kein direktes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Und auch während des immer härteren Vorgehens gegen Andersdenkende kann es noch zu Protesten kommen. Ende 2023 wollten nämlich Abgeordnete aus der Oblast Nischni Nowgorod privaten Kliniken die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verbieten.

Drei Frauen unterschiedlichen Alters stehen mit Bibeln in der Hand auf einem Platz. 
Russisch-orthodoxe Gläubige halten Bibeln, während sie in der zentralen Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau Schlange stehen, um Reliquien zu küssen (Mai 2017).
AP

"Mittelalterliche Initiative"

Das Vorhaben löste prompt Empörung aus: Das für die Oblast wichtige Regionalmedium NN.ru bezeichnete die Initiative gar als "mittelalterlich". Schließlich blitzten die Abgeordneten in der Staatsduma ab, nachdem sich Putin wenig wohlwollend dazu geäußert hatte. Der verglich solche Pläne mit der Prohibition, die "zur Verwendung von Ersatzstoffen, zur Zunahme der Schwarzbrennerei und zu einem Anstieg der Todesfälle durch diese Vergiftungen" geführt habe, zitierte die Zeitung Wedomosti Putin im Dezember 2023.

In den Oblasten Lipezk, Kursk und Tscheljabinsk sowie in Tatarstan und Mordowien, in denen zusammen rund 10,4 Millionen Menschen leben, weigerten sich jedoch schon Ende 2023 viele private Kliniken, Abtreibungen durchzuführen, so Radio Swoboda. Während die russische Führung also offiziell keine Verbote durchsetzen will, werden Maßnahmen ergriffen, die die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche weiter senken dürfte. Die neue Abschreckungskampagne dürfte da keine Ausnahme sein. (Noah Westermayer, 19.6.2024)