Marine Le Pen
Marine Le Pen setzt auf gemäßigtere Töne, um Wähler der Mitte in Frankreich zu locken. Sie ist eine Schlüsselfigur.
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Europas triumphierende Rechte ist weiblich. Zumindest in Frankreich, Deutschland, Italien, in den Führungspositionen der Parteien. Dieses Bild bot sich dem TV-Publikum vergangenen Sonntag, als aus den Parteizentralen, quer durch die EU-Mitgliedsstaaten, die Berichte von den ersten Reaktionen zu den Ergebnissen der Europawahlen über die Schirme liefen.

Drei starke Frauen jubelten über ihre Erfolge: Giorgia Meloni, Alice Weidel und Marine Le Pen. Für viele war das dann doch überraschend. Soziologisch betrachtet gilt die Wählerschaft der EU-Skeptiker als männlich, älter, weiß. Entgegen üblichen Vorstellungen fanden Wahlforscher im Nachgang auch heraus, dass es bei dieser EU-Wahl einen starken Trend in der jüngsten Wählergruppe nach rechts gab.

Unberechenbare Politlandschaft

Die Politlandschaft in Europa wird unberechenbarer. Zudem gibt es starke regionale Unterschiede. In den nordeuropäischen Staaten, im Baltikum, hielt sich der Erfolg der Rechten in Grenzen.

Im Gegensatz dazu sorgten die starken Zuwächse von Parteien, die zurückwollen in eine national geprägte Union, insbesondere in den drei genannten großen EU-Gründungsländern für Aufregung, auch in den Niederlanden. In Frankreich gab es ein politisches Erdbeben.

Der "Rechtsruck" hat dennoch viele Gesichter. Das Spektrum reicht von EU-feindlich-rassistisch bis zu nationalkonservativ-kritisch.

Orbán sucht Anschluss

In Ungarn etwa verlor die Fidesz-Partei von Premier Viktor Orbán erstmals seit langem an Boden. Sein neuer, aus dem Stand mit sechs Mandaten erfolgreicher Gegenspieler Péter Magyar wird in Straßburg der Fraktion der Christdemokraten (EVP) beitreten – Proeuropäern.

In Polen setzte sich Premier Donald Tusk mit seiner Bürgerplattform auf Platz eins durch. Im Gegenzug wurden die Nationalisten der PiS schwächer. Die Wahlergebnisse sind nicht überall einfach zu interpretieren. Sicher ist: Die Rechten haben insgesamt zugelegt. Aber es erreichte nicht ein Ausmaß, dass die bisherige Arbeitskoalition von proeuropäischen Christdemokraten (EVP), Sozialdemokraten (S&D) und Liberalen (RE) in Straßburg unmöglich wäre. Die EVP legte an Mandaten sogar deutlich zu.

Alice Weidel
Alice Weidel: will regieren, ist mit der AfD aber sogar rechts isoliert.
EPA/FILIP SINGER

Prozess der Neuordnung

Die drei könnten für weitere fünf Jahre ein Programm erarbeiten, die amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit verlängern.

Der Einfluss der Rechtspopulisten und Radikalen bliebe begrenzt. Weil aber die Liberalen schwächer wurden und auch die Grünen deutlich verloren (Platz sechs statt Platz vier unter den Fraktionen), könnte es bei der Plenarabstimmung Mitte Juli für von der Leyen knapp werden. Umso hektischer begann im EU-Parlament bereits am Tag nach den Wahlen ein Prozess zur Neuordnung der Macht. Der findet vor allem Mitte-rechts statt. Dabei stellen sich zwei Kernfragen.

Spannung in EVP-Fraktion

Hält die "proeuropäische Allianz", wie EVP-Chef Manfred Weber das nannte, zu der er S&D sowie die Liberalen einlud? Die Sozialdemokraten haben sich dazu schon bekannt. Die Liberalen als Verlierer suchen noch Boden unter den Füßen. Es könnte in der Fraktion einen Aufstand gegen die dominierenden Macronisten aus Frankreich geben.

Oder gelingt es den Rechten, sich erstmals zu einer Großfraktion zusammenzuschließen, Teile der EVP zu überzeugen, mit ihnen gegen die Fortsetzung des Kurses von von der Leyen zu stimmen? Letzteres gilt als nicht wahrscheinlich. Die EU-Politik müsste völlig neu aufgestellt werden, von der Position zur Ukraine bis zum Green Deal, den etwa die Grünen auch ohne Koalitionsbeteiligung weiter unterstützen wollen.

"Wir wollen regieren"

Aber es gibt unter den rund 190 EVP-Abgeordneten doch einige, denen eine Kooperation mit "Roten und Grünen" gegen den Strich geht. Zum Beispiel die französischen Konservativen. Rechts der Mitte ist Neu- und Umorientierung möglich. Der Ausgang der von Staatspräsident Emmanuel Macron angeordneten Neuwahlen in Frankreich wird darauf Einfluss haben.

Die Hauptrollen spielen dabei Le Pen, Meloni und Weidel, nicht zuletzt, weil ihre Parteien gemeinsam 71 von rund 160 den Rechten zurechenbaren Mandaten beisteuern, in EU-Gründungsländern. Ihre Wahlerfolge leuchten, weil die anderen Parteien in den Regierungen dieser Länder sehr schwach abschnitten.

Beispiel Berlin. Die AfD kam auf Platz zwei, vor der Kanzlerpartei SPD, die Grünen und die FDP noch weiter abgeschlagen. "Wir wollen regieren", sagte Weidel, gewagt, bei 16 Prozent Wähleranteil. Ihr Problem: Die AfD gilt sogar in den Augen von Le Pen als zu rechtsextrem.

Giorgia Meloni
Giorgia Meloni hat gut lachen: Wahl gewonnen, in EU akzeptiert.
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Verfünffachte Mandate

In Rom ließ sich Ministerpräsidentin Meloni von ihren Fans feiern, weil ihre Fratelli d’Italia mit ihr als EU-Spitzenkandidatin die Lega von Vizepremier Matteo Salvini zertrümmerten. Die Meloni-Truppe kam auf 31 Prozent Stimmenanteil, verfünffachte die Mandate in Straßburg. Das ist relevant, weil sie sich um einen EU-freundlichen Kurs bemüht, in Sachen Ukraine und Putin etwa auf Linie der EU-Kommission.

Die Fratelli dürften nun die Führung in der Fraktion "Konservative und Reformer" (EKR) übernehmen. Die wurde bisher von der PiS dominiert, und Meloni könnte das Erbe der durch den Brexit ausgeschiedenen britischen Konservativen antreten. In diese Fraktion möchte auch Orbán mit seinen derzeit fraktionslosen Fidesz-Abgeordneten. Einige in der EKR drohen jedoch mit Wechsel zu den Christdemokraten, sollte Putin-Freund Orbán andocken.

Die Orbánisten könnten also versuchen, an die zweite Rechtsfraktion im Parlament, die sich "Identität und Demokratie" (ID) nennt, anzudocken, die vor einigen Wochen erst die AfD ausgeschlossen hat.

Le Pen umwirbt Meloni

Die ID wird noch von der Lega des italienischen Vizepremiers Matteo Salvini geführt. Der möchte gemeinsam mit Harald Vilimsky und FPÖ versuchen, die ID-Fraktion mit Meloni zu vereinen. Sie träumen von einer Großfraktion. Vilimsky bemüht sich um Wiederaufnahme der AfD. Das aber scheitert vorläufig an Le Pen, wie ein Rechten-Treffen in Brüssel am Mittwoch zeigte.

Le Pens Rassemblement National (RN) übersprang in Frankreich die 30-Prozent-Hürde, das beste Ergebnis der Geschichte. Die regierenden Liberalen stürzten hingegen auf 15 Prozent ab, weshalb Staatspräsident Emmanuel Macron noch am Wahltag das Parlament auflöste und Neuwahlen anordnete. Sie finden bereits am 30. Juni statt. Le Pen wird also versuchen, das gemäßigtere Image ihrer Partei weiter zu pflegen, grenzt sich von der AfD, deren Rauswurf aus der ID sie betrieb, ab.

Zumindest vor der französischen Stichwahl am 7. Juli gibt es keine Reunion mit Weidel. Aber Le Pen bemüht sich um einen Pakt mit Meloni, die sich jedoch alles offenhält – auch eine Unterstützung von von der Leyen. Wie das ausgeht, wird man erst Mitte Juli wissen. (Thomas Mayer, 15.6.2024)