Ein komplexer Gesetzesentwurf auf EU-Ebene sorgt für einen veritablen Koalitionskrach in Österreich – und aufgeregte Debatten, die bereits Wochen andauern. Montagvormittag hat der EU-Ministerrat in Luxemburg über das sogenannte Renaturierungsgesetz beraten, eigentlich "Verordnung über die Wiederherstellung der Natur". Das Regelwerk sieht Ziele bis längstens zum Jahr 2050 für Naturschutzgebiete und Agrarflächen vor. Sie sollen naturnäher gestaltet werden, um das Artensterben in den Griff zu bekommen. Ob der Entwurf die Mehrheit der EU-Staaten hinter sich haben würde, blieb allerdings bis zuletzt unklar.

Leonore Gewessler
Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) stimmte trotz des Widerstands der ÖVP und der Bundesländer für das Gesetz.
APA/ALEX HALADA

Nun kennt man den vorläufigen Ausgang der Causa: Die Anzahl der Unterstützer hat gereicht, die EU-Staaten segneten das Renaturierungsgesetz am Montagvormittag ab. Auch für Österreich hat Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) zugestimmt. Österreichs Stimme, die bis zuletzt in der Schwebe war, gab am Ende den Ausschlag. Zwar stimmte ohnehin eine deutliche Mehrheit der Staaten dafür, allerdings konnte das nötige Quorum von 65 Prozent der EU-Einwohner nur wegen Österreich erreicht werden. Am Ende vertraten die Ja-Stimmen 66,07 Prozent der EU-Bevölkerung. Das sorgte für massiven Ärger der ÖVP, die nicht nur eine Nichtigkeitsklage ankündigte, sondern auch die Ministerin wegen Amtsmissbrauchs anzeigen wollte. Das kündigte Generalsekretär Christian Stocker am Montag in einer Aussendung an.

"Die Volkspartei bringt eine Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen Umweltministerin Gewessler ein", erklärte Stocker. Der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt legt die Verfassung für die Mitglieder der Bundesregierung aus, und laut diesem sei die Ministerin gemäß der Verfassung an die Stellungnahme der Länder gebunden. "Es besteht der Verdacht, dass Leonore Gewessler mit ihrer Zustimmung zur Renaturierungsverordnung rechtswidrig und wissentlich gegen die klaren Vorgaben des Verfassungsdienstes und gegen die Verfassung handelt – dies begründet Amtsmissbrauch", führte Stocker aus. "Es kann nicht angehen, dass sich Umweltministerin Gewessler mit Privatgutachten über den Verfassungsdienst hinwegsetzt und dadurch die gesetzlichen Bestimmungen missachtet."

Im EU-Ministerrat hatte sich Gewessler zuvor für das Projekt starkgemacht. "Wir stehen vor einer fundamentalen Entscheidung", erklärte sie. Alle Fragen zur Finanzierung und zur Vereinbarkeit mit bisherigen Umweltschutzprogrammen müssten geklärt sein – doch das sei im Rahmen des vorliegenden Kompromisses geschehen, betonte Gewessler. "Daher stimme ich heute für die Annahme des Vorschlags."

Konflikt zwischen ÖVP, Grünen, Bundesländern

Vorausgegangen ist dem Beschluss innerhalb Österreichs ein Konflikt, an dem die ÖVP, die Grünen und ein Stück weit auch die Bundesländer beteiligt waren: Am Sonntag erklärte Gewessler per Pressekonferenz, dass sie dem Gesetz zustimmen werde, sollte das Zustandekommen von der Unterstützung Österreichs abhängen.

Allerdings war nicht ganz klar, ob Gewessler das auch darf: Eine einheitliche negative Stellungnahme der Bundesländer verpflichtete sie eigentlich gesetzlich zur Ablehnung. Doch im Mai sind die rot regierten Bundesländer Wien und Kärnten aus dieser Länderblockade ausgeschert. Deshalb galt es selbst unter Verfassungsjuristen als unklar, ob die einheitliche Stellungnahme noch aufrecht ist – und ob Gewessler daran gebunden wäre.

Video: EU-Renaturierung: Gewessler stimmt zu, Nichtigkeitsklage fix.
APA

Der zweite kritische Punkt: die Rolle der ÖVP. Es ist rechtlich unklar, ob der Seniorpartner innerhalb der Regierungskoalition ein Veto einlegen darf. Weil sich Gewessler am Sonntag trotzdem festlegte, hat Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) unmittelbar nach der Ankündigung der Ministerin am Sonntagabend den belgischen Ratsvorsitz darüber informiert, dass eine Zustimmung Gewesslers zur EU-Renaturierung rechtswidrig wäre. Es müsse "bei der bereits gemäß den üblichen Verfahren eingemeldeten Stimmenthaltung Österreichs bleiben", so Nehammer. Andernfalls drohe eine Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof.

Unmittelbar nach der Abstimmung kündigte Nehammer an, dass die Nichtigkeitsklage beim EuGH "fix" eingereicht werde. Formal wird das demnach Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) tun. Später folgte die Ankündigung über die Anzeige wegen Amtsmissbrauchs.

Edtstadler sprach bereits von einer "veritablen Regierungskrise". Ob die türkis-grüne Koalition damit am Ende sei, wollte sie nicht sagen: "Das wird man sich anschauen müssen", sagte sie im Ö1-Mittagsjournal. Ihr Hauptaugenmerk als Verfassungsministerin liege nun auf der Nichtigkeitsbeschwerde beim EuGH, um "dieses Unrecht zu beseitigen". Wie bereits am Vortag warf Edtstadler der Umweltministerin "Verfassungsbruch" vor.

Es ist jedenfalls nicht das erste Mal, dass ein türkis-grüner Koalitionsstreit für Verwirrung in Brüssel sorgt. Zuletzt hatte Gewessler etwa einen Entwurf für den Nationalen Energie- und Klimaplan (NEKP) an die EU übermittelt, doch Edtstadler zog den Entwurf zurück. Die Europaministerin begründete das damit, dass drei Ministerien gegen die Pläne Einwände gehabt hätten. Gewessler verwies am Montag im Ö1-Morgenjournal wiederum darauf, dass auch Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) unabgestimmt eine Abschwächung der Klima- und Umweltstandards in der EU-Agrarpolitik unterstützt habe. "Sie können mir glauben, da war ich nicht dafür, sondern explizit dagegen", sagte Gewessler.

Nehammer-Statement um 17 Uhr

Der Regierungskonflikt rund um das Renaturierungsgesetz hat am Montag auch die Opposition auf den Plan gerufen. Nehammer und Gewessler machten Österreich "zur Lachnummer Europas", kritisierte SPÖ-Klimasprecherin Julia Herr. FPÖ-Chef Herbert Kickl forderte indes von Nehammer Konsequenzen für den "ideologiegetriebenen Alleingang" Gewesslers. ÖVP-Generalsekretär Stocker wollte bei einer Pressekonferenz nichts sagen.

"Was wir gerade erleben, ist im Grunde die Fortsetzung der letzten fünf Jahre Schwarz-Grün, nur mit härteren Bandagen, weil die Wahl naht", sagte Herr und ortete ein "unwürdiges Hickhack". Die Regierung sei nur mehr ein "Trauerspiel". Stocker wollte indes nichts zu möglichen Konsequenzen für die Koalition sagen. Bei einem Medientermin zur Fußball-Europameisterschaft danach gefragt, meinte er nur: "Ich habe nicht von ungefähr gesagt, dieser Termin ist dem Fußball vorbehalten, und das wird auch so bleiben." Stocker verwies aber auf ein für 17 Uhr geplantes Statement von Kanzler Nehammer.

Zahlreiche Umweltschutzorganisationen begrüßten den Beschluss des Naturschutzgesetzes: WWF spricht von einem "historischen Fortschritt" und einem "großen Sieg für die Natur". Global 2000 zeigt sich erfreut, dass Gewessler "heute Verantwortung übernommen hat", laut Greenpeace schreibt die Umweltministerin "mit ihrem mutigen Entschluss Geschichte". (Joseph Gepp, Johannes Pucher, 17.6.2024)