Benny Morris
Beleuchtet historische Hintergründe: Benny Morris.
Yanai Yechiel

Der Historiker Benny Morris ist ein Mann voller Paradoxe. In Israel zählt er zu den sogenannten Neuen Historikern, die trotz vieler Unterschiede der Ehrgeiz einigte, offizielle politische und kulturelle Mythen des israelischen Selbstverständnisses anzugreifen – ein Linker, der im Laufe vieler Positionswechsel die israelische Besatzung der Westbank als Verbrechen bezeichnete, dann zum Liebling der Rechten avancierte, als er bedauerte, dass die Regierung 1948 nicht alle Araber vertreiben ließ, und sich kürzlich durch die Unterzeichnung der Petition "Academics 4 Peace" gegen Unterdrückung und – ja – "Apartheid" aussprach.

Ans unerreichbare Ideal interesseloser Objektivität erstaunlich nah kam er indes mit seinem, nun auf Deutsch vorliegenden, Standardwerk zum Krieg von 1948 heran. Im Kampf zwischen Kritikern und Verteidigern israelischer Politik, der vor allem außerhalb Israels mit einer Heftigkeit ausgetragen wird, als hinge die Zukunft des Universums davon ab, legte Morris eine mustergültige Monografie vor, aus der sich beide Seiten – selektiv – bedienen können.

Neues Narrativ

Wissenschaftliche Präzision, die jede Patronenhülse zählt, kann Leser und Leserinnen, deren vorrangiges historisches Interesse nicht in Militärgeschichte besteht, schnell ermüden. Sie könnten mit dem sehr instruktiven Nachwort vorliebnehmen, ließen sich nicht auch aus den Schilderungen der Kampfverläufe zwischen November 1947 und Juli 1949 interessante Lehren ziehen.

Wie schon in früheren Büchern räumt Morris mit dem offiziellen Narrativ auf, die arabische Bevölkerung hätte ausschließlich freiwillig, von ihren politischen Führern angestachelt, ihre Heimstätten verlassen. Natürlich wurde sie auch von israelischen Kombattanten vertrieben, allerdings erst, nachdem arabische Milizen etliche jüdische Dörfer entvölkert hatten und Anstalten machten, die alteingesessene jüdische Bevölkerung aus Jerusalem zu jagen. Vertreibungen fanden vor allem in Dörfern entlang der Hauptverkehrsadern statt, um die Basis für Hinterhalte zu eliminieren.

Zwei Kriege

Morris erzählt die Geschichte zweier Kriege, des "Bürgerkriegs" zwischen arabischen Milizen und israelischen Paramilitärs (Hagana, Irgun, Lechi), welche durch diese erste Phase erst zu jener nationalen Armee geschmiedet wurden, die sich ab März 1948 den ägyptischen, jordanischen, syrischen, irakischen und libanesischen Invasions­armeen entgegenstellte. Der Krieg zeitigte Gräueltaten auf beiden Seiten, und wieder kontert Morris der Staatshistoriografie, indem er nachweist, dass die arabische Seite weitaus mehr zivile Opfer zu verbuchen hatte als die israelische. Er weist diese Bilanz aber auch als Resultat der militärischen Überlegenheit des Jischuv, der jüdischen Bevölkerung, aus.

Das wohl schlimmste Massaker an arabischen Zivilisten im Dorf Deir Jassin war ein Alleingang der rechtszionistischen Truppen des Irgun und der Lechi und wurde von der Hagana und der Jewish Agency scharf verurteilt. Die Bewohner von Haifa, traditionell in gutem Einvernehmen mit den jüdischen Immigranten, veranlassten die Gräuel­taten zwei Wochen später zur Massenflucht, obwohl sie von der Hagana unter ­Sicherheitsgarantien aufgefordert wurden zu bleiben.

Buchcover
Benny Morris, "1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg". Deutsch: Johannes Bruns, Peter Kathmann. € 32,90 / 646 Seiten. Hentrich und Hentrich, Berlin 2023
Hentrich & Hentrich Verlag

Kein Masterplan

Deutlich wird, dass es Vertreibungsfantasien auf zionistischer Seite vereinzelt gab, dass die realen Vertreibungen jedoch eine Folge der Kriegsdynamik darstellten und kein zentraler Masterplan existierte, geschweige denn der eines Ethnozids. Mit dem Einschreiten der arabischen Bruderstaaten indes zeichneten sich zukunftsweisende Muster ab: die ideologische und faktische Instrumentalisierung der Araber Palästinas.

Keiner der Invasoren hatte einen palästinensischen Staat im Sinn, vielmehr wollten sie sich Happen des Territoriums einverleiben, und ihre Niederlage war zu einem Gutteil der nationalstaatlichen Konkurrenz, gegenseitigem Misstrauen und der Unfähigkeit zu koordiniertem Vorgehen geschuldet. Auch weist Morris nach, dass die säkulare Rhetorik des arabischen Nationalismus auf die Ideologie des Jihadismus und religiöser Judenfeindlichkeit nicht verzichten wollte. Die arabischen Bewohner Palästinas waren für die arabische Welt, was sie heute noch sind: Bauernopfer.

Entzaubert

Und letztlich wird das Märchen von Israel als Filiale eines west­lichen Imperialismus entzaubert. Im Gegenteil musste sich der Jischuv gegen die tendenziell pro­arabische Protektoratsmacht durchsetzen und kriegsentscheidende schwere Waffen durch das britische Embargo schmuggeln. Bezogen wurden diese größtenteils, und zwar vor und nach dem kommunistischen Umsturz im Februar 1948, aus der Tschechoslowakei, deren Bewohner schon während des Zweiten Weltkrieges große Solidarität mit jüdischen Mitbürgern und -bürgerinnen bewiesen hatten.

Benny Morris' Buch gehört zum Kanon der Werke, die für eine seriöse Auseinandersetzung mit der Genese auch der aktuellen Konflikte in und um Israel unerlässlich sind. (Richard Schuberth, 22.6.2024)