Frau lehnt an einem Geländer und blickt nachdenklich zum Sonnenuntergang auf dem Meer 
Wofür stehe ich, und wie möchte ich leben? Der persönliche Klärungsprozess zu Fragen wie diesen kann ganz schön anstrengend sein.
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Zu Beginn erntete Tatjana Schnell für ihre Forschung vor allem eines: verwunderte Blicke. "Was ist das denn für eine komische Frage? Warum sollte man darüber nachdenken? Das ist doch völlig irrelevant", bekam sie oft zu hören, wenn sie ihren Probandinnen und Probanden die wohl größte aller Fragen gestellt hat: Was gibt Ihnen Sinn im Leben?

Heute ist das anders. "Für die meisten ist es mittlerweile völlig selbstverständlich, sich diese Frage zu stellen", beobachtet die Sinnforscherin, Leiterin des Existential Psychology Lab der Universität Innsbruck und Professorin für existenzielle Psychologie in Oslo. Das zeigt sich auch in Zahlen: Bei Schnells erster repräsentativer Stichprobe im Jahr 2005 hatten etwa vier Prozent der Befragten eine Sinnkrise. Inzwischen sind es in Deutschland und Österreich 14 Prozent. Bei den 18- bis 29-Jährigen gab sogar ein Viertel an, unter einer Sinnkrise zu leiden.

Die Suche nach dem Warum ist wichtiger als je zu vor – und der fehlende Sinn im Leben ist damit eine der "drängendsten Herausforderungen unserer Zeit", ist Schnell überzeugt. Denn wer keinen Sinn hat, ist weniger resilient. Menschen mit Sinn hingegen leben erfüllter, bewusster, gesünder – und länger.

Von der Krise zur Sinnkrise

Der Anstieg an Sinnkrisen hängt wohl in erster Linie mit den Krisen unserer Zeit zusammen, liest Schnell aus ihren Daten heraus. Die erste größere Welle an Sinnkrisen beobachtet sie um 2009 herum, nach der damaligen Finanzkrise: "Da fingen viele an, das große Ganze zu hinterfragen. Warum arbeite ich eigentlich? Was passiert mit dem Geld? Woran orientiert sich unsere Gesellschaft, und was ist ein gelingendes Leben?"

Dieses Hinterfragen von größeren Zusammenhängen ist typisch für den Beginn von Sinnkrisen. Mittlerweile gibt es immer mehr gesellschaftliche und globale Krisen. Das kann manche in eine Sinnkrise stürzen – eben weil sie dadurch vieles stärker hinterfragen: Was bedeutet Frieden? Wie kam es zur Pandemie? Warum verändert sich das Klima? Und wie können wir angesichts all dessen sinnvoll leben?

Man stellt plötzlich Grundlegendes infrage. Dieser innere Prozess endet früher oder später mit Desillusionierung, erklärt die Sinnforscherin. "Die Leute merken dann meist, dass sie über sich und die Welt Dinge angenommen haben, die so eigentlich gar nicht stimmen." Dabei geht es um Annahmen wie: Es wird schon alles gut werden, und am Ende des Tages ist die Welt gerecht. Oder: Wer seine Arbeit immer brav macht, hat am Ende auch Erfolg. Und wem es schlecht geht, der ist selbst schuld.

Positive Illusionen

In der Psychologie spricht man bei diesen Annahmen von positiven Illusionen. Positiv deshalb, weil sie unseren Selbstwert stärken und uns vermeintlich die Angst nehmen. "Aber sie sind halt Illusionen. Sie stimmen einfach nicht", stellt Schnell klar.

Die meisten stellen das genau in Zeiten von Krisen fest. Das können große gesellschaftliche Umbrüche sein oder ein Ereignis im persönlichen Umfeld, eine Krankheit oder ein Unfall zum Beispiel. "Dann merkt man plötzlich: Die Welt ist vielleicht doch nicht nur gut, und das ist jetzt keine gerechte Bestrafung, weil ich etwas falsch gemacht habe." Das Leben, so wie wir es kennen, wird unterbrochen – es kommt zur Sinnkrise. Eine Sinnkrise bedeute also nichts anderes, als einen ehrlichen Blick auf die Welt zu haben und dabei gezwungenermaßen auch Ungerechtigkeit und Absurdität zu entdecken.

Das kann im ersten Moment ganz schön wehtun. "Aber auch wenn es blöd klingt, man sollte dieses Leiden zulassen", rät Schnell. Nur wer sich diesem inneren Prozess stellt, kommt am Ende zu einem realistischeren Verständnis von sich selbst und der Welt. Dabei geht es um Fragen wie: Was sind meine Werte? Wie möchte ich leben? Und wie kann ich dazu beitragen, dass auch andere gut leben können?

Digitaler "Sinnmacher"

Es gibt verschiedene Wege, wie man Antworten darauf und damit den eigenen Lebenssinn findet – beziehungsweise eigentlich die Lebenssinne. Denn den einen entscheidenden Sinn gibt es laut Schnell nicht, es gehe viel eher um mehrere Sinnquellen in unterschiedlichsten Lebensbereichen. "Wichtig ist, dass man sich dabei nicht nur auf einen Bereich fokussiert, sondern in verschiedene Bereiche involviert ist, bezogen auf mich selbst, auf Gemeinschaft, auf das größere Ganze. Sinn braucht immer eine Balance", betont sie.

Um Menschen bei ihrer Suche nach dem Sinn zu unterstützen, hat Schnell den sogenannten Sinnmacher mitentwickelt. Das ist eine digitale Plattform, auf der man durch verschiedene Tests die persönlichen Sinnquellen erkunden kann. Mit spielerischen, gleichzeitig wissenschaftlich fundierten Methoden werden nachhaltige Veränderungen im echten Leben angeregt. Die Userinnen und User werden mit personalisierten Impulsen und Übungen mehrere Monate auf der Suche nach ihren persönlichen Sinnquellen begleitet – und dabei, wie sie diese Quellen im Alltag möglichst gut nähren können.

Denn nach all der Reflexionsarbeit, ist es wichtig, auch ins Handeln zu kommen. "Nur in mir drin werde ich den Sinn nicht finden. Man muss auch etwas tun", sagt die Expertin. Aus der Forschung weiß man, was dabei besonders sinnstiftend sein kann: etwas, bei dem es nicht um einen selbst geht und man etwas zum größeren Ganzen beiträgt.

In der Psychologie spricht man hier von Generativität. "Dabei kann es um andere Menschen, die Gesellschaft, aber auch um Natur und Tiere gehen. Studien zeigen, dass die Erfahrung, sich einzulassen und etwas beizutragen, sozial, politisch, ökologisch, künstlerisch, ein ganz starker Sinnstifter ist, für gesunde Menschen ebenso wie für Erkrankte, für Junge wie für Ältere", berichtet Schnell.

Leben ohne Sinn nur soso lala

Aber braucht wirklich jeder und jede einen größeren Sinn im Leben? Davon war der Psychiater und Begründer der Existenzanalyse Viktor Frankl überzeugt. Aber in ihrer Forschung hat Schnell gesehen, dass das so nicht stimmt: "Es gibt viele Menschen, die keinen Sinn haben und damit auch kein Problem haben. Sie leiden nicht darunter." Vor 20 Jahren war das ungefähr ein Drittel der Menschen hierzulande. Heute gibt noch knapp ein Fünftel aller Befragten an, keinen Sinn im Leben zu sehen, ihn aber auch nicht zu vermissen.

Das ist auch eine Sache der Weltanschauung und der Selbstwahrnehmung. Studienergebnisse zeigen: Menschen, die so eine indifferente Haltung zum Sinn haben, gehen auch eher davon aus, dass ihr Handeln keine Konsequenzen hat. Sie sind prinzipiell wenig involviert, weder gesellschaftlich noch anderweitig, sie sehen sich nicht in der Verantwortung. Technik, Industrie und Wissenschaft werden die Probleme unserer Zeit schon lösen, sagen sie, aber das sei doch nicht die Aufgabe jedes und jeder Einzelnen. "Sie wollen einfach irgendwie zurechtkommen und das Leben so gut es geht genießen", sagt Schnell.

So richtig erfüllend ist diese Lebensweise allerdings nicht, zeigt die Sinnforschung. Diese Menschen leiden zwar nicht unter der Abwesenheit von Sinn, aber besonders gut geht es ihnen auch nicht: "Es geht ihnen in allen Bereichen so mittel. Sie sind mittelzufrieden, nicht depressiv, aber auch nicht glücklich." Das belegt auch eine Vielzahl von Studien, betont Schnell: Ohne Lebenssinn ist es viel schwerer, glücklich zu sein.

Kontraproduktives Glück

Tatsächlich würden viele Leute nämlich den Lebenssinn mit Glück verwechseln: "Wir leben in einer Glücksgesellschaft, alle streben nach Glück." Dabei ist genau das kontraproduktiv, zeigt die Forschung. Ausgerechnet die Menschen, für die es am wichtigsten ist, glücklich zu sein, sind am unglücklichsten. Das ständige Streben nach Glück ist dementsprechend sogar ein Risikofaktor für Depressionen. "Wenn ich alles daraufsetze, glücklich zu sein, werde ich durch alle anderen Erfahrungen enttäuscht, verdränge auch vieles Negative. Das funktioniert auf Dauer nicht gut", sagt Schnell.

Sinn sei demnach etwas ganz anderes als Glück. Bei Sinn geht es nicht darum, wie es sich anfühlt, sondern darum, ob man mit seinen Werten im Einklang lebt. Tut man das, was man für richtig und wichtig hält? Wenn ja, kann daraus wiederum Glück entstehen: "Aber das entsteht eben nicht, weil man es anstrebt, sondern weil Glück quasi ein Nebenprodukt des sinnvollen Handelns ist." (Magdalena Pötsch, 30.6.2024)