Die Spätantike war eine unfreundliche Zeit. Die alte Welt lag in Trümmern, das Klima begann sich abzukühlen, Hunger und marodierende Heereshaufen auf Raubzug bedrohten nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches die Menschen. Die Bevölkerung sah vielerorts ihre einzige Chance in der Flucht auf die Berg- und Hügelkuppen, wo sie sich besser verteidigen konnte. Im Binnen-Noricum des fünften und sechsten Jahrhunderts waren diese befestigten Höhensiedlungen weitverbreitet.

Die Überreste einer solchen für die Spätantike typischen Höhensiedlung wurden 2010 im oberen Drautal in Kärnten entdeckt. Damals ahnte noch niemand, welchen einzigartigen Schatz die alten Gemäuer für die Archäologinnen und Archäologen der Universität Innsbruck bereithalten sollten: Unter dem Boden einer kleinen frühchristlichen Kirche entdeckte das Grabungsteam vor zwei Jahren einen kunstvoll gearbeiteten Reliquienbehälter aus Elfenbein, der dort seit rund 1500 Jahren unangetastet verborgen war. Die beteiligten Fachleute sprechen von einem Jahrhundertfund.

Die (leider unvollständige) Pyxis aus Elfenbein war ein konservatorischer Albtraum. Doch die Expertinnen und Experten der Restaurierungswerkstatt am Institut für Archäologie der Universität Innsbruck haben ganze Arbeit geleistet.
Foto: APA/UNIVERSITÄT INNSBRUCK

Geschützt in der Höhensiedlung

Die Höhensiedlung liegt auf einem vom Talboden gemessen 150 Meter hohen Hügel südlich der Drau im Gemeindegebiet von Irschen. Allein schon ihr Name, Burgbichl, lässt an alte Befestigungsanlagen denken. Tatsächlich vermutete man hier zunächst eine Burganlage. Als man 2016 unter der Leitung von Gerald Grabherr von der Uni Innsbruck mit den Grabungen begann, stellte sich jedoch schnell heraus, dass die Fundstätte dafür viel zu weitläufig ist. Als spätantike Höhensiedlung machten die Mauer- und Gebäudereste deutlich mehr Sinn.

Der kleine Ort dürfte seinerzeit gut zu verteidigen gewesen sein: Ein Zugang war nur talseitig aus dem Norden möglich, weshalb dort eine wehrhafte Sperrmauer aus Bruchsteinen errichtet wurde, die an einigen Stellen noch immer 1,5 Meter emporragt. Die anderen Seiten fallen steil ab und sind nur unter Mühen zu erklimmen. Die Siedlungsfläche verteilt sich auf einem trapezförmigen Areal von einem knappen Hektar auf mehrere Terrassen.

rekonstruierte Höhensiedlung
Die Illustration zeigt eine Rekonstruktion der spätantiken Höhensiedlung auf dem Burgbichl. Dargestellt sind nur nachgewiesene bauliche Objekte.
Illustr.: Universität Innsbruck

Die Forschenden fanden im Osten der Fläche die Fundamente mehrerer Wohngebäude, teils von repräsentativem Charakter, sowie eine Zisterne, die ebenfalls gut zum Gesamtbild passte. Anders war auf dem abgeschotteten Hügel ohne Quelle in gefährlichen Jahren die Bevölkerung wohl nicht mit Wasser zu versorgen. Auch zwei Kirchen wurden identifiziert.

Kirche mit gewissem Prunk

Auf dem Scheitelpunkt des Burgbichls thronte auf einem Plateau von etwa 13 Meter mal 11 Meter eine dieser Kirchen als Zentrum der Siedlung. Die Region war schon im Verlauf des dritten und vierten Jahrhunderts christianisiert worden. Theodosius I., der letzte Kaiser des gesamten Römischen Reiches, hatte das Christentum ab 379 faktisch zur Staatsreligion erhoben und Gesetze gegen Häresien und Heidentum erlassen. Als die Siedlung auf dem Burgbichl entstand, waren die alten Religionen vermutlich schon weitgehend verschwunden.

Auffällig war der Aufwand, der bei der Errichtung der Kirche getrieben worden war. Das in Ost-West-Richtung orientierte Gebäude aus Stein besaß in der ersten Bauphase einen kreuzförmigen Grundriss mit im Osten gelegener Apsis. Südlich der Apsis entdeckte man ein gemauertes, mit einer Schieferplatte abgedecktes Grab mit den Überresten von acht Personen. Die Forschenden halten es für das Stiftergrab. Der Einsatz von Marmor an mehreren Stellen, darunter an der Eingangsschwelle, in einem Seitenraum und im Presbyterium, wo zwei Fragmente von Marmorsäulen geborgen wurden, spricht für einen oder mehrere ausgesprochen wohlhabende Bewohner der Höhensiedlung.

Kirche und Reliquiennische
Die Seitenkapelle der Kirche nach den Ausgrabungen: Im Vordergrund ist ein sternförmiges Taufbecken zu sehen, dahinter befand sich der Altar mit (nun geöffneter) Reliquiennische.
Foto: APA/UNIVERSITÄT INNSBRUCK

Marmorschrein unter dem Altar

Den eigentliche Schatz fand man jedoch in einer Seitenkapelle des Gotteshauses, der ursprünglichen Taufkapelle. Hier hatte sich zunächst das sternförmige Taufbecken befunden, ehe man den Raum umgewidmet hat: Man legte ein Stück davon entfernt im Zentrum einer kreisrunden Bank eine rechteckige Reliquiengrube mit rundem Abschluss an und errichtete darüber einen Altar. Als die Archäologinnen und Archäologen um Grabherr den Altar und eine darunterliegende Steinplatte entfernten, kam ein prachtvoller Marmorschrein vom Vorschein.

Obwohl selbst schon ein erstaunlicher Fund, wird dieser 20 mal 30 Zentimeter große Schrein von dem Objekt, das er in seinem Inneren verbarg, weit in den Schatten gestellt: Dort entdeckten die Forschenden nämlich ein stark fragmentiertes, mit christlichen Motiven reich verziertes Reliquiar aus Elfenbein, eine sogenannte Pyxis, die normalerweise dazu dient, sterbliche Überreste eines Heiligen oder andere Reliquien aufzunehmen.

Marmorschrein
Der 27 Kilogramm schwere Marmorschrein ist an der Oberseite mit einem eingemeißelten Kreuz verziert. Löcher mit Metallspuren lassen darauf schließen, dass der Behälter einst mit Metallklammern verschlossen war.
Foto: APA/UNIVERSITÄT INNSBRUCK

Einzigartiger Glücksfall

Es muss sich um den wertvollsten Besitz der Dorfgemeinschaft gehandelt haben, einen hochverehrten, heiligen Gegenstand – umso rätselhafter ist es, dass man ihn nicht mitgenommen hat, als die Siedlung und damit auch die Kirche aufgegeben wurde. Für die Wissenschafter ist dies freilich ein Glücksfall ohne Beispiel. Keine andere Pyxis war bisher jemals in Österreich in archäologischem Kontext gefunden worden.

"Weltweit wissen wir von circa 40 derartiger Elfenbeindosen, bei Grabungen ist meines Wissens eine solche zuletzt vor inzwischen rund 100 Jahren gefunden worden", erklärt Grabherr bei der Präsentation des Fundes am Dienstag in Innsbruck. "Die wenigen Pyxiden, die es gibt, sind entweder in Domschätzen erhalten oder in Museen ausgestellt."

Das zerbrechliche Kunstwerk mit zahlreichen figürlichen Darstellungen aus dem Alten und Neuen Testament hatte in seiner ursprünglichen Form einen Durchmesser von sieben Zentimetern und war aus fünf Teilen gefertigt worden. Der mit Scharnieren und Schloss versehene Deckel besaß einen angeklebten Knauf. Doch so präsentierte sich der Fund den Forschenden bei der Öffnung des Marmorbehälters leider nicht: Elfenbein ist ein sehr empfindlicher Werkstoff. Wechselnde Feuchtigkeitsbedingungen, wie sie über die Jahrhunderte hinweg in dem Marmorschrein geherrscht haben, sind das reinste Gift für solche Werkstücke.

Marmorkiste mit Elfenbeinfragmenten
Als die Forschenden um Gerald Grabherr den Marmorschrein öffneten, erwartete sie ein einzigartiges Fundstück, leider allerdings in einem beklagenswerten Zustand.
Foto: APA/UNIVERSITÄT INNSBRUCK

Konservatorisches Kunststück

Nimmt Elfenbein Nässe aus der Umgebung auf, wird es weich und formbar und sehr empfindlich gegenüber Beschädigungen. "Zudem führt unkontrolliertes Austrocknen schlimmstenfalls zu Schrumpfungen und Rissen und damit zu Schäden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können", sagte Ulrike Töchterle, Leiterin der Restaurierungswerkstatt in Innsbruck. Das Objekt befand sich also nach 1500 Jahren unter wechselnden klimatischen Bedingungen in einem denkbar schlechten Zustand. Eine falsche Berührung hätte die Fragmente vollends zerbröseln lassen.

Doch Töchterle und ihrem Team ist es in einem konservatorischen Kraftakt gelungen, die spätantike Kostbarkeit für die Zukunft zu erhalten. Der Weg bis dorthin war freilich eine arge Geduldsprobe für die Forschenden: In einem eineinhalb Jahre dauernden Prozess wurden die Elfenbeinfragmente so langsam und schonend wie möglich getrocknet, damit die Artefakte nicht schrumpfen oder weiter auseinanderbrechen. In den Originalzustand lässt sich das Objekt allerdings nicht mehr versetzen, dafür sind die größeren Fragmente zu sehr verformt. Darüber hinaus fehlen einige Teile. Eine 3D-Rekonstruktion, an der die Forschenden derzeit arbeiten, soll aber künftig einen Eindruck vom ursprünglichen Aussehen der Pyxis vermitteln.

Hand Gottes
Links: Einem Mann auf einer sogenannten Biga, einem Zweigespann, wird vom Himmel her die Hand gereicht. Die Forschenden vermuten, dass hier die Himmelfahrt Christi dargestellt wurde. Rechts: Das Detail zeigt wahrscheinlich die Hand Gottes, die Moses am Berg Sinai die Zehn Gebote zusteckt.
Foto: Universität Innsbruck

Wo ist das Reliquium?

Mittlerweile ist das Konservierungsverfahren abgeschlossen worden, und "seit kurzem können Schrein und Dose wissenschaftlich untersucht werden", wie Grabherr mit sichtlicher Freunde verkündete. Die ersten Ergebnisse lieferten gleich eine kleine Überraschung. Eigentlich war man davon ausgegangen, dass sich in dem Reliquienschrein tatsächlich auch eine klassische Heiligenreliquie befindet. Doch davon entdeckten die Forschenden bei der Bergung keine Spur.

Die Schichtung der im Schrein gefundenen Fragmente und die späteren Analysen deuten eher darauf hin, dass die Elfenbeinpyxis bereits in der Spätantike zu Bruch gegangen war und in Einzelteilen unter dem Alter verborgen wurde. "Die Pyxis wurde vermutlich ebenfalls als heilig gesehen und wurde auch so behandelt, sozusagen als Berührungsreliquie", sagte Grabherr. Mit anderen Worten: Eine wohl früher darin befindliche Heiligenreliquie hatte den Behälter selbst zu einem heiligen Gegenstand gemacht.

Reliquiar aus Elfenbein
Die einzelnen Fragmente des Reliquiars wurden hier als Panorama aufgelegt.
Foto: Universität Innsbruck

Bilder aus dem Alten und Neuen Testament

Welchen Heiligen die Elfenbeindose einst beherbergt hat, lässt sich aufgrund der Darstellungen auf dem Reliquiar nicht eingrenzen. Einige der bildlichen Szenen lassen sich aber auf bestimmte Bibelstellen zurückführen. So zeigt die Pyxis beispielsweise an einer Stelle eine Figur am Fuß eines Berges. Aus den Wolken reicht eine Hand dem Mann einen rechteckigen Gegenstand. "Das ist die typische Darstellung der Übergabe der Gesetze an Moses am Berg Sinai, der Beginn des Bundes zwischen Gott und den Menschen aus dem Alten Testament", sagte Grabherr.

Aus dem Neuen Testament dürfte eine Szene mit einem Mann auf einem von zwei Pferden gezogenen Wagen stammen. Auch hier reckt sich eine Hand vom Himmel herab, die den Mann offenbar zu sich hochziehen möchte. "Wir vermuten hier eine Darstellung der Himmelfahrt Christi, die Vollendung des Bundes mit Gott", so Grabherr.

Die Forschungsarbeiten an dem einzigartigen Fundstück haben gerade erst begonnen. Aktuell laufen mehrere Untersuchungen, bei denen man sich auch naturwissenschaftlicher Methoden bedient: "Zum einen ist noch eine exakte Herkunftsbestimmung des Marmors ausständig, und mittels Stabilisotopen-Untersuchungen wollen wir auch die Herkunft des Elfenbeins beziehungsweise des Elefanten bestimmen", sagte Töchterle. Auch die metallischen Bestandteile, etwa die Scharniere, müssten noch näher bestimmt werden.

Videodokumentation zur Grabung und zur Konservierung des Irschener Reliquienschreins.
Universität Innsbruck

Ab 610 verlassen

Nicht zuletzt wurden auch Holzteile in der Marmorkiste gefunden, die vermutlich mit dem Verschluss des Reliquiars in Zusammenhang standen. "Es ist jedoch nicht völlig ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich, dass es sich dabei doch noch um eine Reliquie handeln könnte", so Töchterle. Vielleicht lässt sich nach diesen Untersuchungen besser eingrenzen, wo das Elfenbeingefäß hergestellt worden ist. Eine Ahnung haben die Forschenden allerdings schon: Die kunstvolle Machart weist es am ehesten als Produkt von Handwerkern einer größeren Metropole im Mittelmeerraum aus.

Warum die elfenbeinerne Kostbarkeit in der Kirche zurückgelassen wurde, dürfte dagegen wohl ein Rätsel bleiben. Bisherige Grabungen weisen nicht auf eine gewaltsame Zerstörung der Siedlung hin. Vieles spricht eher dafür, dass der Ort ab dem Jahr 610 verlassen wurde. Das Jahr bildete eine Zäsur für die Menschen dieser Region: Die Schlacht von Aguntum ganz in der Nähe brachte einem slawischen Heer den Sieg über bajuwarische Truppen und Siedler. In der Folge wurden die Siedlungsräume neu aufgeteilt. Danach endete faktisch die Zugehörigkeit der Region zur mediterranen antiken Welt. Die Slawen, die keine Christen waren, brachten ihre eigenen Götter mit, die Zeiten wurden friedlicher, und die Menschen verließen schließlich die Höhensiedlungen, um sich wieder auf dem Talgrund häuslich einzurichten. (Thomas Bergmayr, 26.6.2024)