Matt Berninger von The National bei einem Konzert in Madrid im Arbeitsmodus: Wo sind die Hände?!
Matt Berninger von The National, hier bei einem Konzert in Madrid, im Arbeitsmodus: Wo sind die Hände?!
EPA/RODRIGO JIMENEZ

Es gibt Bands, die mit Harleys, Rock 'n' Roll Trains oder wie im Falle Raf Camoras zumindest mit Motorrollern auf die Bühne brausen: "Hallo Halli, Halli Hallo, Halli Halli Hallo! Lipstick Lady, bitte schau mi net so an, weil i mi sonst nimma halten kann!" Und es gibt Bands, die mit dem imaginären Rotweinkelch in der Hand bedächtig auf die Bühne schlurfen, um gleich eines klarzumachen: Anbaggern und breitbeiniges Geprotze finden heute in der Stadthalle nicht statt. Dagegen stehen Sänger Matt Berninger und seine von Ohio aus in die Welt gekommene Band The National.

Matt Berninger wirkt mit seinen Aschenbecherbrillen, dem verwuzelten Sakko und einem zeitlos hässlich nach Theologiestudium während der 1970er-Jahre ausschauenden Zu-faul-zum-Rasieren-Bart wie ein Akademiker, der sich nicht recht zwischen seinen Forschungsgebieten entscheiden kann. Es wird also eine nicht immer fürs Gemüt bekömmliche Mischung werden.

Die Rezeption mittelalterlicher Minnelyrik als schriftlich überlieferte Form eines ritualisierten, letztlich hormonell wie spirituell unbefriedigt bleibenden Begehrens trifft auf eine extrem selbstverliebte Anlassigkeit gegenüber dem Publikum. Ja, freilich, der Narzissmus unter besonderer Berücksichtigung der zur Schau gestellten Selbstbezichtigung bezüglich charakterlicher Unzulänglichkeiten wird niemals langweilig. Wenn ich dir in die Augen schaue, spiegelt sich auf deiner Hornhaut etwas Wunderbares. Das bin ja ich!

Es wird gleich wehtun

Matt Berninger geht tatsächlich zwischendurch singend und brummend unter die Leute, um sich die Hände auflegen zu lassen. So werden seine und unsere Seelen gesund! Das führt aber nicht etwa zu beidseitig langfristig erlösenden Zuständen des im Bauch und im Schritt kribbelnden Wohlbefindens, in denen unsere Nackenverspannung aufgrund eines plötzlichen Verliebtheitsgefühls einfach so verschwindet. Nein. Matt Berninger steht anschließend nicht als vor viriler Stärke strotzender Hengst auf der Bühne. Wie es schon eingangs des zweistündigen Konzerts in der raunenden Ballade Runaway heißt: "We don't bleed, when we don't fight."

Matt Berninger macht anschließend in Tropic Morning News klar, dass er in Sachen Party-Smalltalk und auch als Glückskeks unbewandert ist. Hallo, wie geht es? Danke, schlecht! "There's nothing stopping me now / From saying all the painful parts out loud."

The National

Wenn man den in manchen Aspekten durchaus vergleichbaren Nick Cave seines lieben Herrn Jesus und der Bibel als Inspiration beraubt und die künstlerische Leidens- und Erweckungsgeschichte vom rauen und schroffen Postpunk herauf zum Soundtrack für Sitzyoga verfolgt, erkennt man Parallelen zu The National.

Der auf Gitarren gezupfte Kitsch aus dem sakralen Hallraum von U2 oder Coldplay ist während der letzten Jahre leider oft dazugekommen. Matt Berninger fühlt sich in dieser Umgebung derart unwohl, dass es ihm dabei so gut geht wie schon lange nicht. Kein Wunder, dass sich Taylor Swift als Expertin für Selbstmitleid sowie als Vorsitzende der Volksgruppe Ich, Ich und Ich von The National Ideen holt. Deren musikalischer Direktor Aaron Dessner schreibt und produziert auch seit Jahren für Taylor Swift, aktuell etwa auf – schon wieder Schmerz – The Tortured Poets Department.

Lebensmüder Bariton

Mit brummigem, immer auch leicht lebensmüdem Bariton geht es Matt Beringer in der Wiener Stadthalle zu Dessners schön mollig klingender und sich manchmal zu letzten Crescendos aufbäumender Gitarre entsprechend exaltiert an. Dazu schmiert ein Bläsersatz zart dissonant mit unwiderstehlicher Bierzelttrompete. Thematisch erklären sich die Songs weitgehend selbst.

Die live durchlittenen Lieder nennen sich The System Only Dreams in Total Darkness, This Is The Last Time, Day I Die oder Graceless und Terrible Love. Selbstverständlich wird auch im sich schmusig mit Chorgesang gebenden Kitchensink-Drama Laugh Track die Kunst der Selbstbezichtigung praktiziert: "So turn on the laugh track / Everyone knows you're a wreck." Das hat durchaus Humor. Allerdings fehlt die Ironie. Wer aber einst einen herzerweiternden Jahrhundertsong wie Bloodbuzz Ohio geschrieben hat, dem sei wirklich alles verziehen. Manchmal hilft Weinen ja doch sehr. (Christian Schachinger, 26.6.2024)