100 Millionen Beiträge wurden untersucht, um Schlüsse über die Verbreitung von Theorien zu ziehen.
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Zuerst wurde unser aller Bewegungsfreiheit durch Corona-Lockdowns eingeschränkt, nun vermeintlich im Sinne des Klimaschutzes. Diese Brücke wird in einschlägigen Onlinekanälen immer öfter geschlagen. Es ist kein Einzelfall, dass verschiedene Proteste im Umfeld der QAnon-Bewegung verbunden werden: Es handelt sich um einen der Faktoren, die laut einer Untersuchung von Lighthouse Reports und EUobserver zur erfolgreichen Verbreitung von Verschwörungserzählungen führen. Nach einer Bearbeitung von 100 Millionen Posts konnten sowohl Methoden des klassischen Marketings wie auch neue Praktiken festgestellt werden. Drei Schlagwörter, die hierbei besonders prägend waren, sind das Timing, das Netzwerk sowie das Vokabular.

Dass Verschwörungsbewegungen auf den Messengerdienst Telegram zurückgreifen, um ihre Ansichten zu verbreiten, ist ein verbreitetes Phänomen. Auch das bekannte Netzwerk QAnon, das sich dem Kampf gegen den sogenannten Deep-State, eine satanische Elite, welche laut QAnon die Welt kontrolliert, verschrieben hat, ist hier besonders aktiv. 2022 machten sich die investigativen Netzwerke Lighthouse und Bellingcat dies zum Anlass, die größte datenbasierte Untersuchung zu QAnon in Europa durchzuführen, bei der alle Beiträge der von Experten kuratierten Channels und anderen Plattformen seit ihrer Entstehung bearbeitet wurden. Auf diese Datenbank wurde nun zurückgegriffen: Insgesamt 100 Millionen Posts wurden ein Jahr lang untersucht, um das Rezept zu verstehen, mit dem die Theorien Einzelner durch Manipulation auf Social Media zu einer umfassenden, verbreiteten Anschauung werden. Die angewandten Methoden des Verfahrens können online genau eingesehen werden.

Vorhandenes nutzen und Verbindungen schaffen

Zum Zeitpunkt der Untersuchungen verglomm der Ärger der Mitglieder einschlägiger Kanäle, der zunächst von Theorien zur Corona-Pandemie und später zum Ukrainekrieg angefeuert wurde, langsam. Die Glut war jedoch noch vorhanden und bot den perfekten Nährboden für das neue Ziel der Bewegung – die Klimaleugnung. Ein treffendes Beispiel für das kritische Moment des Timings. Untersuchungsgegenstand war hierbei der Diskurs rund um die Proteste gegen die 15-Minuten-Stadt. Das Modell, das Umweltverschmutzung reduzieren soll, indem essenzielle Nahversorgung in Laufdistanz gewährleistet wird, sollte in Teilen in Oxford umgesetzt werden. Daraufhin formierte sich im Februar 2023 ein Protest in der Universitätsstadt, der das Projekt als "globalistische Agenda" betitelte, welche Freiheiten beschneiden und die Bevölkerung kontrollieren wolle, indem diese ihre Wohnviertel nicht mehr verlassen dürften.

Die große Aufmerksamkeit wurde der Thematik allerdings erst gegen Ende des Jahres zuteil, als sie von einigen populären Kanälen aufgegriffen wurde. Dadurch gelang die Theorie erstmals zu breiterer Aufmerksamkeit und höherem Datenverkehr. Hier wird ein weiterer Faktor sichtbar: Die Netzwerke von Influencern mit größeren Plattformen werden angeknüpft, um möglichst viel Reichweite zu generieren. So kann ein Thema, das eigentlich bereits einige Monate zurückliegt, im Nachhinein antizyklisch zu einem großen Coup werden. Wie im klassischen Influencer-Marketing hat also auch die Alternative Szene ihre eigenen Größen, die als Multiplikator darstellen können.

Dies gelingt jedoch nur, weil auf bestehende Ressourcen zurückgegriffen wird: Es werden Schlüsselwörter in den Diskurs eingestreut, die mit den bereits geläufigen QAnon-Überzeugungen resonieren. Dies zeigte sich bei einer Extrahierung der am häufigsten vorkommenden Substantive, welche daraufhin nach ihrer thematischen Ähnlichkeit gruppiert wurden. Es wurde sichtbar, dass die rein rhetorische Integration die Chancen klar erhöht, dass neue Theorien das Metanarrativ des Netzwerks aufgenommen werden, wodurch sich eine Vielzahl an Menschen darauf beziehen. So kann bereits bestehende Empörung in die Richtung neuer Feindbilder gelenkt werden. Sowohl Vergleiche zu Covid als auch starke Schlagwörter wie Kontrolle stellten die Forderungen nach Maßnahmen der 15-Minuten-Stadt unmittelbar in ein fremdes Licht.

Aus der Bubble hinaus

Es braucht jedoch noch einen weiteren Schritt, um die vielen unterschiedlichen, teilweise gar widersprüchlichen Erzählstränge einer solch diversen Bewegung unter einem Hut zu vereinen. Dieser wird gegangen, wenn lokale Ereignisse wie die in Oxford es – mitunter durch die bereits betrachteten Mechanismen – zu internationaler Bekanntheit schaffen. Dabei geht es nicht nur um zahlenmäßige Verbreitung, sondern darum, lokale Ereignisse als Teil eines internationalen Plans zu betrachten. Dies lässt sich hervorragend einordnen in das System QAnon, in dem jedes neue globale Ereignis im Lichte der Nachrichten ihres Vorreiters Q interpretiert und weitergesponnen wird. Eine solche internationale Delokalisierung validiert das Vorgehen und führt zurückführend zu mehr Erfolg auf der lokalen Ebene: Es wird nicht mehr gegen den Bürgermeister von Oxford gekämpft, sondern gegen die internationalen Eliten.

Der letzte Schritt des Rezepts ist dann vollendet, wenn die etwaigen Erzählungen von außenstehenden Personen des öffentlichen Lebens aufgegriffen werden. Durch diese Anerkennung wird den Theorien die nötige Seriösität zuteil, es kann sich auf ein "neutrales" Außen bezogen werden. Im Falle der Proteste gegen die 15-Minuten-Stadt ist diese Person Jonathan Tilt, der ehemalige Vorsitzende der Freedom Alliance Party. Im Rahmen der Widerstandskampagne zog dieser in der Öffentlichkeit eindeutige Verbindungen zwischen den vorgeschlagenen Umweltschutz-Maßnahmen und den Lockdowns während der Pandemie: "Klimawandel, Klimaalarmismus und grobe Reisebeschränkungen sind ein weiterer Versuch, dies (eine dystopische digitale Matrix, Anm.) zu erreichen. Es ist eine hinterhältigere und langsamer wirkende Methode als die, die wir 2020 hatten." Er sieht die jetzigen Vorstöße zu diesem gänzlich anderen Themenbereich als eine "andere Route" auf dem Weg zum selben Ziel an, viele andere folgen dieser Linie.

So verbinden sich ultimativ verschiedenste Erzählungen in einem großen Metanarrativ. Dieses findet nicht nur online statt, sondern tritt immer wieder aus der Sphäre der Telegram-Channel heraus. Sei es in Form von Tilt, dem Bürgermeisterkandidaten, oder der einflussreichen Desinformationsgruppe "Childrens Health Defense", die nun Lobbyarbeit im Europaparlament betreibt. Auf diese Weise bildet sich eine "Omni-Verschwörung", und auf der Straße in Oxford wird gleichzeitig gegen bessere Nahversorgung, Impfungen und die Existenz von 9/11 protestiert. Online wird diese Verbindung unter dem Hashtag "Klimalockdown" verschlagwortet. (hlk, 6.7.24.)