Terézia Mora
Mora über J.K.Rowling: "Sie hat ein Recht auf ihre Meinung, und sie hat einen Punkt. Queere Emanzipation sollte nicht dazu führen, dass Frauen verschwinden."
Antje Berghäuser

Manchmal tritt sie ein bisschen auf wie ein Berserker, sagt Terézia Mora von sich selbst: eine wilde Kämpferin, mit der man eigentlich männliche Charakteristiken assoziiert. Die gebürtige Ungarin lebt in Berlin. Sie hat fast alle wichtigen Preise im deutschsprachigen Literaturbetrieb erhalten, ihre Texte sind eingängig und komplex zugleich, ihre Positionen immer streitbar. Den STANDARD empfing sie in ihrem Büro im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Zum Verhältnis zwischen Männern und Frauen, in dem mit Missbrauch in der einen oder anderen Form immer zu rechnen ist, hat sie mit Muna oder Die Hälfte des Lebens nun einen neuen, starken Roman geschrieben. Im Mittelpunkt: eine moderne Lolita-Figur, die versucht, erwachsen zu werden.

STANDARD: In Ihrem neuen Roman erzählen Sie von einer Frau, die sich sehr jung in einen älteren Mann verliebt und dann lange nicht von ihm loskommt, obwohl sie von ihm misshandelt wird. Der Untertitel des Buchs lautet: "Die weibliche Variante". Eine Variante wovon?

Mora: Eine Variante von meinem bisherigen Werk zum Beispiel. Das ist natürlich mit Absicht ein rätselhafter Satz. Der Verlag wollte ihn auch nicht drinhaben. Ich schon. Muna ist eine weibliche Variante, verglichen mit den männlichen Hauptfiguren, über die ich davor geschrieben habe. Ich habe mich sieben Jahre gequält, eine weibliche Hauptfigur zu kreieren. Mit Muna habe ich mich ungleich schwerer getan als mit Darius Kopp in Das Ungeheuer (2013). Irgendwann habe ich das Ganze umgedreht und anderthalb Monate Schreibzeit darauf verwendet, herauszufinden, wie die Geschichte aussieht, wenn Magnus Muna zu Füßen liegt. Wenn ein jüngerer Mann der Minnesänger ist.

STANDARD: Das wäre vielleicht zu programmatisch gewesen?

Mora: Es ging damit zu viel verloren an heimlich oder weniger heimlich untergejubelter, unbekannter weiblicher Literatur, die ich verwendet habe in diesem Text. Es wäre too much gewesen, wenn dieser sanfte, sehnsuchtsvolle junge Mann auch noch so viel davon gewusst hätte. Das ist unwahrscheinlich. Ich habe aber gelernt, dass ich auch in dieser Variante die Frau weniger mag. Ich habe das an mir festgestellt, was ich im normalen Leben an mir beobachte. Wenn eine Frau sich schlecht behandeln lässt, gibt man ihr die Schuld. Das ist meine eigene Misogynie, mit der sich seit 52 Jahren herumlaufe.

STANDARD: Für Ihre Bücher über den Informatiker Darius Kopp haben Sie Preise gewonnen. Warum fiel Ihnen diese Figur leichter?

Mora: Ich habe mit Darius Kopp einen IT-Menschen ausgewählt, der, um es einmal so zu sagen, mit anderen Texten lebt als ich. Die Lösung war, ihm eine Frau zur Seite zu stellen, die ich besser verstehe. Flora hat ihren Zweck in den Büchern sehr gut erfüllt, eine Übersetzerin, eine Geistesarbeiterin. Aber warum müssen diese Frauen, wie Ophelia im Hamlet, ununterbrochen sterben? Warum muss die Frau den Schmerz liefern, an dem die Hauptfigur dann wachsen kann? Es ist ein Thema, dass im Kulturbereich in den niedrigeren Positionen Armeen von Frauen tätig sind, Enthusiastinnen, die sich aufreiben.

STANDARD: Das ist auch die Welt, in die Muna hineinwächst. Da ist sie schon auf Magnus fixiert, den sie als den schönsten Mann der Welt sieht. Was sie nicht sieht, ist, wie gemein er zu ihr ist. Sie vermeiden wohl bewusst, ihn genauer zu beschreiben?

Mora: Genau, das wäre ja blöd, denn dann würde ich behaupten, der schönste Junge der Welt müsste zum Beispiel blonde Locken haben. Aber es hängt nicht von bestimmten Dingen ab. Du begegnest all diesen anderen Männern, aber du siehst nur diesen einen. Während des Schreibens fiel mir ein Buch über Camus in die Hand. Da war ein Bild von ihm als junger Mann in Algerien. So könnte Magnus aussehen. Aber das ist auch nur ein Moment.

STANDARD: Muna schläft mit Magnus. Dann verschwindet er für Jahre. Die Erfahrung der Intimität bleibt ebenfalls weitgehend ausgespart.

Mora: Heutzutage kann man scheinbar keine Miniserie mehr machen ohne Sexualakt. Mir tun immer die Schauspieler leid, die das mit Wildfremden performen müssen. Es ist wichtig, dass sie Sex haben, bevor er verschwindet. Natürlich bindet man sich durch Sexualität, sonst wäre es sieben Jahre Anbetung eines Bildes. Aber nun hat er ja ihrem Begehren zugestimmt, ist ihr entgegengekommen, gnädigerweise. Ich fand es unwichtig, zu beschreiben, wie dieser Sex ist, obwohl ... Ich habe schon versucht, anzudeuten, dass der Sex eigentlich okay ist. Muna versucht dann auch mit anderen Sex zu haben, um ihre Erfahrung zu normalisieren. Aber der mit Magnus bleibt besonders.

STANDARD: Ist Muna naiv?

Mora: Sie ist 18, und wie alle 18-Jährigen denkt sie mehr zu wissen als ihre Eltern. Sie erzieht sich seit acht Jahren selbst, weil die Mutter als Schauspielerin und Alkoholikerin sie allein lässt, und sie ist ganz am Anfang damit, ihre Fähigkeiten zu erkennen. Auch was Beziehungen betrifft, ist sie ganz am Anfang. Ab welchem Punkt können wir sie als erwachsen betrachten? In dem Moment, in dem sie ihr Studium abgeschlossen hat? Genau da taucht Magnus wieder auf.

STANDARD: In Nabokovs "Lolita" erzählt Humbert Humbert von seiner ungeheuerlichen Beziehung auf eine Weise, die ihn rechtfertigen soll. Gibt es da Analogien zu Muna?

Mora: Absolut. Deswegen ist das eine Icherzählung. Muna rechtfertigt im Grunde die ganze Zeit mal sich, mal Magnus. Meiner Erfahrung nach gibt es immer eine Erzählung darüber, was vor sich geht. Eine, die man nach außen tragen kann, und eine, die man nicht nach außen tragen kann. Muna hat einen Übergriff erlebt, den sie nicht anzeigt, sie ist sogar bei Magnus geblieben und muss nun anfangen, eine Erklärung zu fabrizieren.

STANDARD: Ist das auch der Grund, warum ihr Tonfall das ganze Buch hindurch relativ gleich bleibt? Sie entwickelt sich nicht wirklich, oder?

Mora: Tatsächlich nicht. Sie macht sich ja selber zum Kind. Würde sie reifer werden, könnte sie sich nicht mehr einreden, dass das okay ist, wie sie an diesem Mann hängt. Ich erlebe das auch häufig im Alltag: Eine Runde von Frauen sitzt beisammen, ein Mann kommt herein, und die Stimmen werden höher. Meine halt nicht. Sobald ein Mann den Raum betritt, verhalten viele Frauen sich anders. Das finde ich merkwürdig.

STANDARD: Kennen Sie auch Frauen, die in der Lage sind, einen Raum in Besitz zu nehmen?

Mora: Doch, auch, einige, und zwar durch Geisteskraft. Im Buch aber habe ich keine solche Figur. Muna kann nicht dazu werden, weil sie in einer Beziehung lebt, die schambehaftet ist.

STANDARD: In Ihrem Buch "Fleckenverlauf" geben Sie Einblicke in Ihr eigenes Leben. Prominent taucht dort eine Liste von Erfahrungen auf, die Sie selbst mit übergriffigen Männern machten.

Mora: Und das ist nur ein Best-of. Das Material war viel voluminöser, und anderen passiert Schlimmeres, ganz ehrlich.

STANDARD: Welcher Übergriff hat Sie besonders belastet?

Mora: Auf einer belebten Straße in Lissabon kommen mir drei arabisch aussehende junge Männer entgegen und greifen mir in den Schritt. Das war wie Silvester in Köln. Ich weiß, es ist schwierig, darüber zu sprechen. Keiner will als Rassist erscheinen, aber Sexist ist in Ordnung? Daran müssen wir arbeiten. Um es zusammenzufassen: Als Frau wächst man auf in einem "blizzard of bad dicks". Man kann sechs Jahre alt sein und lüstern angeglotzt werden. Erfahrungen mit alten Knackern setzen sich so fort, es gibt überhaupt kein Halten. Die Welt ist voller Perverser.

STANDARD: Was ist obszön an "Lolita" oder an Humbert Humberts Text?

Mora: Wie er über Lolitas Mutter spricht, die er heiratet, um an die Tochter heranzukommen. Wie verächtlich er über deren Körper spricht. Ein junges Mädchen ist das Einzige, womit er zurechtkommen kann. Er ist im Grunde ein armes Würstchen. Das Problem ist, dass ein erwachsener Mann auch als armes Würstchen mehr Kraft und mehr Macht hat als ein heranwachsendes Kind. Nabokov wollte Humbert Humbert durchaus verurteilend darstellen. In die Popkultur ging aber ein, dass Lolita eine nachahmenswerte weibliche Figur ist. Moi ... Lolita, singt Alizée.

STANDARD: In Frankreich werden Männer wie der Schriftsteller Gabriel Matzneff oder die Regisseure Benoît Jacquot und Jacques Doillon nun nach vielen Jahren für ihren Umgang mit sehr jungen Mädchen endlich belangt.

Mora: Ich sage zu meiner Tochter immer: Ihr Mädchen seid die Blumen der Erde. Es gibt nichts Schöneres als euch. Jeder will in eurer Nähe sein. Aber es gibt Annäherungsweisen, die respektvoll sind, und andere, die es nicht sind. Wenn Männer diesen Unterschied nicht begreifen, sollen sie es halt lernen. Es ist nicht so, dass das unmöglich ist. Und es ist an uns allen, die Mädchen müssen wir beschützen, und die Jungen auch, denn sie können auch zum Opfer werden, siehe Anthony Rapp.

STANDARD: Sie sprechen in "Fleckenverlauf" auch Ihre Erfahrungen mit dem Altern an und beschreiben sich als eine Frau "mit einem zerstückelten Gesicht".

Mora: Fleckenverlauf fing ich in einem Moment an, in dem es mit meiner Gesundheit bergab ging. Damals, vor zehn Jahren, brach alles weg. Warum erodiere ich plötzlich? Ich hab doch alles richtig gemacht. Auslöser zu diesem Tagebuch war eine Einladung zu einem Abendessen mit lauter Autorinnen in meinen Alter oder etwas älter. Das war so ein Beleidigten-Abendessen, bei dem sie mir eingeimpft haben, dass es für eine Frau mit fünfzig vorbei ist. Mit der Karriere und allem. Mit diesem Rucksack bin ich tatsächlich eine ganze Weile herumgelaufen.

STANDARD: Dabei haben Sie doch einen Status als erfolgreiche Autorin, der Ihnen Souveränität verleihen könnte.

Mora: Es war eine große Erleichterung, dass das Buch über Muna gut ankam. Denn ich hatte es davor für möglich gehalten, dass ich alle diese Preise nur bekommen habe, weil ich über Männer geschrieben habe, also über die wirklich wichtigen Leute. Wer Das Ungeheuer nicht mochte, mochte das Buch wegen Floras Klagestrom nicht. Bei all meiner Berserkerhaftigkeit ist da immer diese Befürchtung: Wenn du es wagen solltest, eine Frau in den Mittelpunkt zu stellen, werden sie dich bestrafen. Selbstverständlich muss man sich über so etwas hinwegsetzen. Jetzt sage ich mir: Oh, sie haben mir auch das vergeben. Und da kommt wieder das Aussehen hinein. Wäre ich schöner, würden sie mir weniger verzeihen. So denkt man als Frau.All das kann man, je nach Veranlagung oder Tagesform, als Zeichen meiner Dummheit sehen oder als ein Zeichen dafür, wie die Gesellschaft mit Frauen umgeht.

STANDARD: Zu Beginn des Buchs lebt Muna noch in der DDR. Inwiefern ist das wichtig?

Mora: Ich habe mich für die DDR entschieden, damit es nicht Ungarn ist. Die Figur ist mein Jahrgang. Zehn Jahre später hätte Muna feministische Literaturwissenschaften auf einem ganz anderen Niveau rezipiert. Ich komme aus einer besonderen k. u. k. Welt: Katholizismus und Kommunismus. Man kann wählen, was von beiden das Individuum mehr unterdrückt hat. Ich habe erlebt, dass Frauen unheimlich zäh sind. Sie machen die meiste Arbeit und bekommen keine Anerkennung. In der Diktatur des Proletariats werden aber auch Männer kaumbesser behandelt.

Lolita Filmfigur
Altmännerfantasie: Sue Lyon war 16, als sie 1962 in Stanley Kubricks "Lolita"- Verfilmung Dolores "Lolita" Haze spielte. Im Juli wird Nabokovs Skandalroman "Lolita" in Lech diskutiert werden.
imago images/ZUMA Press

STANDARD: Über die kommunistischen Länder geht die Rede, dass die Menschen dort den besseren Sex hatten.

Mora: Nicht in Ungarn. Vielleicht in der DDR. Abtreibungen und die Pille waren leicht zu erreichen und umsonst. Kindergartenplätze und Wohnungen gab es für alle. Frauen konnten mit den Herausforderungen einfacher umgehen, ob sie Kinder haben wollten oder nicht. Aber in meinem Umfeld wurden sogar Geschiedene von der Gemeinschaft schlecht behandelt. Das muss tief in den Ungarn drinstecken. Ich musste einen Vortrag halten über Antisemitismus in Ungarn, und dabei ist herausgekommen, dass sich der größte Hass auf LGBTIQ-Menschen richtet.

STANDARD: In den letzten Jahren wird Sexualität stark durch queere Erfahrungen interpretiert, die klassischen Feminismen haben es daneben schwer. Täuscht dieser Eindruck?

Mora: Ich habe eine 16 Jahre alte Tochter, die noch dazu auf ein Gymnasium geht, das auf Gesellschaftswissenschaften spezialisiert ist. Durch sie habe ich etwas Zugang zum Stand der Diskussion. Unisex-Toiletten leuchten mir ein. Zu meiner Tochter habe ich aber auch gesagt: Du musst verstehen, dass biologische Frauen sich unwohl fühlen, wenn eine nicht vollständig transitierte Transfrau in derselben Toilette ist. Das Problem ist der Penis.

STANDARD: Damit vertreten Sie eine Position, für die vor allem J. K. Rowling stark angegriffen wird.

Mora: Ja, natürlich. Ich versuche, Rowling zu verteidigen. Sie hat ein Recht auf ihre Meinung, und sie hat einen Punkt. Queere Emanzipation sollte nicht dazu führen, dass Frauen verschwinden.

STANDARD: Muna hat ein altmodisches Problem, könnte man sagen. Ein Mann-Frau-Problem.

Mora: Sie versteht sich biologisch als Frau, und sie hängt alten Frauenrollen nach. Ihr Problem ist, dass sie lernen muss, sich anders zu definieren. Ich wollte einem Unbehagen Ausdruck verleihen darüber, was ich mitgebracht habe, und nicht unbedingt auf der Höhe des jetzigen Diskurses sein. Der Diskurs ist nicht verkehrt. Kim de l’Horizons Text fand ich großartig.

STANDARD: Wie geht es mit der Trilogie der Frauen weiter?

Mora: Mich machen meine Bücher immer so fertig. Ich habe beschlossen, ich fange erst ein Jahr nachdem Muna erschienen ist mit dem nächsten an. Das wird jedes Mal schlimmer. Ich erlange Erfahrung und Routine, aber ich muss für jedes neue Buch viel Neues lernen. Das nächste Buch wird auch noch einmal schmerzlich sein. Darin wird Ungarn vorkommen. Es wird die Hölle. Aber ich kann es nicht länger aufschieben. (Interview: Bert Rebhandl, 6.7.2024)